Valeri Kuklin

 

 

Ein Fall fürs Archiv

 

Im Kreis Aulie-Ata in Turkestan wurde am Dritten dieses Monats ein räuberischer Überfall auf eine Postkutsche verübt, die fünfzigtausend Rubel staatlicher Gelder in Scheinen beförderte. Ein Postbeamter kam dabei zu Tode. Den Räubern gelang die Flucht. Die örtliche Polizei hat die Ermittlungen eingeleitet.

Sankt-Petersburger Zeitung, Juni 1912.

 

 

30.06.1912 Islambek Schumabajew

 

Solange Islambek denken konnte, hatte er jeden Morgen dasselbe Bild gesehen: Die Mutter saß mit einer hohen weißen Fellmütze am Feuer, säuberte den Eimer für die Stutenmilch, und über dem Feuer hing ein Kessel, als wäre er mit einer Dampfwolke direkt am Himmel befestigt. Ob die Sonne schien, feiner Regen fiel oder ein Schneesturm tobte – nichts konnte sie in die Jurte zurücktreiben, nichts brachte sie dazu, sich noch eine Zeitlang unter der warmen Decke zu strecken. Kaum begann die aufkommende Morgenröte, den Horizont golden zu färben, erhob sich die Mutter von ihrer Schlafstatt, ging hinaus und fing an, die Schafe, Stuten und die Kuh zu melken, den Eimer nach jedem Melken auszuwaschen, zündete das Feuer an und hängte einen großen Kessel darüber.

Das Wasser brodelte, die Mutter schnitt Fleisch und Zwiebeln, und die ganze Familie schlief auf drei Jurten verteilt in der Gewißheit, daß man beim ersten Schrei der erwachenden Hammel gemächlich würde aus dem Bett steigen, sich waschen und seine Morgentoilette verrichten können. Bei Bajbitsche[1], das wußten alle, würde niemand hungrig bleiben. Selbst jedem von den Kindern, die das Vieh auf die Weide trieben, würde sie ein Stückchen Fladen und ein kleines bißchen Schafskäse mitgeben.

Islambek fragte sich sein Leben lang, wann die Mutter es nur schaffte, einmal auszuruhen. Denn bis in die tiefe Nacht hinein, wenn die Männer sich die Bäuche mit frisch zubereiteten Hammelinnereien vollgeschlagen hatten und sich satt rülpsend zum Schlafen in die Jurten schleppten, blieb sie auf, um die zwei Nebenfrauen des Vaters und die Schwiegertochter, die Frau von Islambeks Bruder Issataj, zu beaufsichtigen, wenn sie den Tisch abräumten und das Wasser im Kessel erhitzten, um darin die Schüsseln und die Trinkschalen abzuwaschen. Die allabendliche Aufgabe der Bajbitsche war jedoch nicht das Aufräumen als solches, sondern die Aufsicht über die jungen Frauen: es könnte ja eine nicht genügend arbeiten oder sich noch etwas zu essen stibitzen; sie wachte darüber, daß die Arbeit voranging und niemandem zu schwer wurde.

Salem aleikum, Apa[2]“, sagte Islambek. „Schlafen Sie wieder nicht?“

Die Mutter wandte den Kopf  vom Eimer ab und streifte sein Gesicht nur flüchtig mit einem vom Tag müden Blick, um sich dann wieder dem Eimer zuzuwenden. Dieser Eimer war ihr Lieblingsstück; der Vater hatte ihn auf dem Taschkenter Basar gekauft und ihn der Mutter schon im ersten Jahr ihres Zusammenlebens geschenkt, als sie mit Issataj schwanger und an Islambek noch nicht einmal zu denken war.

„Apa! Was ist mit Ihnen?“, fragte er. „Ihre Augen sind ganz rot.“

Die Mutter strich mehrmals mit der Handfläche über den Eimer, wischte ein paar Wassertröpfchen von ihm ab und hängte ihn mit dem Boden nach oben an einen der daneben eingeschlagenen Pflöcke.

„Komm her, Söhnchen“, sagte sie. „Ich will dich etwas fragen.“

Ihre Stimme klang leer, so daß es ihm einen Stich versetzte: Sie war doch wohl nicht krank?

Islambek ging zur Mutter und kniete sich vor ihr hin.

„Ich höre Ihnen zu, Apa.“

„Söhnchen“, sagte die Mutter und sah ihm tief in die Augen. „Weißt du, was die Leute aus dem Tal über dich reden? Man sagt, du hättest einen Russen umgebracht und wärest nun der reichste Bai[3] im Kreis, doch an deinem Geld klebe Blut.“

„Was sagen Sie da, Apa?“, rief Islambek entsetzt. „Was für einen Russen? Ich habe niemanden umgebracht!“

„Den Russen, der viel Geld in einem russischen Zweispänner befördert hat.“

„In der Postkutsche?“, wunderte sich Islambek. „Aber warum glauben sie, ich wäre es gewesen?“

„Man hat dich auf dem Weg gesehen. An jenem Tag. Du bist auf dem Pferd geritten und hattest einen Sack bei Dir. Du bist so schnell geritten, als wäre der Satan hinter dir her.“

„Apa!“, rief Islambek. „Denken Sie auch, ich könnte einen Menschen töten?“

„In meinem Alter, Söhnchen, denkt eine Frau nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.“

„Glauben Sie ihnen, Apa?“

Er erhob sich aus der Hocke und sah von oben her auf sie herab.

„Ich mache mir viele Gedanken, Söhnchen, aber kaum jemand hört auf mich“, antwortete sie nach einer Weile. „Heute nacht haben bei uns zwei junge Russen um Unterkunft gebeten. Sie haben ein Gewehr und zwei Messer bei sich. Ich denke, sie wollen an dir Blutrache üben.“

„Bei den Russen gibt es keine Blutrache, Apa“, entgegnete Islambek. „Sie haben andere Gesetze, auf  Papier geschriebene.“

Er ging zur Jurte und sah hinein.

Dort schliefen, der Länge nach auf dünnen Filzmatten aus Schafwolle ausgestreckt, zwei russische Burschen. Der jüngere von beiden, hatte sich aufgedeckt und lag, die Beine wie ein Kind bis zum Bauch angezogen, in der Mitte der Jurte. Der zweite versuchte im Schlaf, ihn zuzudecken, konnte aber die breiten Schultern seines Bruders nicht umfassen, hatte den Arm nach ihm ausgestreckt und war so auf halbem Wege, vom Schlaf übermannt, liegengeblieben. Daran, daß die Burschen Brüder waren, bestand kein Zweifel: dieselbe riesige, pickelige Nase, dieselben Lippen, dasselbe mächtige, wie aus Blei gegossene Kinn.

Er hätte hineingehen, zweimal das Messer schwenken und den Schlafenden die Kehlen durchschneiden können.

Islambek erschauderte und  wich zurück.

Allmählich hob sich der Schleier der Nacht, doch die Sonne war hinter den Bergen noch nicht aufgegangen, so daß das Licht aussah, als würde es sich über alles ergießen, doch für das ganze Tal reichte es noch nicht aus, und so verlor es sich zwischen den verschlungenen Furchen der Bergschluchten, verschwand an einigen Stellen ganz und ließ die Berge gestreift aussehen wie ein alter Chalat[4] der Sarten.

Islambek ging zum Bach, hockte sich nieder und machte sich daran, sich die Hände zu waschen. Was waren das für Leute, was wollten sie hier?

„Söhnchen“, rief ihn die Mutter. „Ich denke trotzdem, daß jedes Volk seine Blutrache hat.“

„Sind sie schon lange hier?“, antwortete Islambek mit einer Gegenfrage und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Jurte für Gäste.

„Du hast noch geschlafen. Es sind die Kinder des ermordeten Russen. Ich spüre das.“

Und wenn schon... Vielleicht hatte die Mutter ja auch recht. Diese Burschen sind nicht ohne Grund auf die Bergweiden gestiegen. Wenn sie Waffen bei sich hatten, konnten sie auch auf dem Heimweg von der Jagd sein. Vielleicht waren sie zum Feuer gekommen und hatten um ein Nachtlager gebeten. Aber wo war ihre Beute? Die zwei jungen Männer hätten hier eine Bergziege, einen Bock und auch ein Bergreh schießen können. Sollten sie tatsächlich nicht einmal ein Rebhuhn erlegt haben? Die Russen hatten gute Waffen und wußten mit ihnen umzugehen. Auf einem Festmahl beim Imam Schaksalyk hatte in diesem Frühjahr ein Russe seinen Karabiner – „mexikanischer“ hieß er – gezeigt: von einem Pferd aus hatte er im Galopp auf Tonkrüge geschossen. Die Schüsse waren nicht laut gewesen, aber kurz hintereinander erfolgt, man konnte ihnen mit den Augen kaum folgen. Man sah nur, wie die Krüge scheppernd zersprangen und das Wasser aus ihnen in regenbogenfarbenen Fontänen zum Himmel schoß.

Bei der Erinnerung an das Mahl lief Islambek das Wasser im Mund zusammen, und in seinem Bauch verspürte er ein wohliges Völlegefühl. Es war ein schönes Fest gewesen. Der alte Schaksalyk geizte nicht, wenn er Gäste bewirtete. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, war er doch gesund von der Pilgerfahrt nach Mekka heimgekehrt und hatte einen grünen Turban und bereits seinen zweiten grünen Stock mitgebracht. Ein richtiger Heiliger! Und wie reich er war! Zu Beginn des Sommers hatte er eine ganze Schafherde schlachten lassen. Und was für Schafe! Die Hammel waren ausschließlich Zuchthammel gewesen – fett, jung und hatten ein Fleisch, das auf der Zunge wir Butter zerging. Die Schafe aller anderen (auch Islambeks) waren zu dieser Zeit so mager, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. In das frische Gras verbissen sie sich so, daß die Erde mit den Wurzeln aufgewirbelt wurde. Die Herden von Schaksalyk jedoch trotteten gemächlich über die grüne Wiese, zupften unwillig an den Hälmchen, als fürchteten sie, ihre fetten Schwänze zu zerzausen.

Islambek selbst hatte dem Vater vorgeschlagen: „Laß uns das Heu zum Winter mähen!“, doch der hatte geantwortet: „Sollen doch die Russen mähen, wir Kasachen sind Freigeister. Es paßt nicht zu uns, an einen Ort gebunden zu sein. So haben schon unsere Ahnen gelebt, und das ist auch uns vorherbestimmt.“ Schaksalyk-aga[5] aber hatte, bevor er zu den heiligen Stätten aufbrach, seine Kinder geheißen, das Heu zu mähen, einen Vorrat anzulegen und das Vieh damit den Winter über zu füttern. Was würde der Vater wohl jetzt sagen?

Gar nichts würde er sagen. Das alte Starrkopf würde anfangen, etwas vom Willen Allahs zu erzählen, von den heiligen Traditionen der Vorfahren, als ob ein richtiger Moslem nicht zu jeder Quelle und jedem einsam in der Steppe stehenden Baum beten würde. Er würde nur so reden, damit seine Frauen und Kinder seine Verlegenheit nicht bemerkten und an seine Weisheit und uneingeschränkte Autorität glaubten. Und sollte es ein Viehsterben nach einem Wintereinbruch geben, weil das Vieh kein Gras zupfen konnte, würden seine Worte wie die Samen des Dschusgun[6] im rauhen Wind verwehen; der Alte selbst würde vor Stolz und Wut sterben und seine Kinder im Elend zurücklassen.

Der Vater konnte den Imam nicht leiden, er mochte ihn nicht und neidete ihm auch nicht den Reichtum und die Fähigkeit, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen, Seite an Seite mit den Russen zu leben und trotzdem heilig zu bleiben.

So wußte der Imam beispielsweise, daß der Weg nach Mekka schwer und gefährlich war. Daher hatte er, als er ging, seine Herden unter seinen Söhnen aufgeteilt. Er hatte ihnen befohlen, einen Teil des Geldes, das sie auf den Märkten von Aulie-Ata und Taschkent bekämen, nicht den russischen Händlern für deren Waren geben, sondern in ein besonderes russisches Haus bringen sollten, das Bank hieß. Die Kasachen dreier Täler hatten über den Alten gelacht. Nun aber waren sie verstummt und ins Grübeln gekommen. Schaksalyk-aga hatte die Herden, die er den Söhnen gegeben hatte, zurückgenommen, und das Geld aus dem russischen Haus hatte er nicht nur in voller Höhe wiederbekommen, sondern auch noch mit Bakschisch, das die Russen Zins nannten. Und diesen ganzen Bakschisch hatte er den Kindern geschenkt, damit sie sich etwas davon kaufen konnten.

Der Imam war ein reicher Mann, und wie reich er war! Er hatte so ein Fest veranstaltet, daß sich noch hundert Jahre lang die ganze Steppe daran erinnern würde. Allein an dem Pferderennen hatten siebenhundert Dschigiten teilgenommen, zweihundert Menschen hatte beim Bockabjagen[7] miteinander gekämpft, und zum Ringkampf waren die Recken sogar bis aus Karakalpakien angereist. Beim Sängerwettstreit war der Sänger Dschamoul Ehrengast, und gewonnen hat der junge Kenen, Sohn Aserbais aus Kurdai. Nicht einmal der Steppenfürst des Khans von Chiwa, der für seine Liebe zu persischen Versen und Reiterturnieren berühmt war, leistete sich einen solchen Luxus. So erzählten es die Alten...

„He, Dschigit!“, ertönte eine Stimme hinter Islambeks Rücken, „Weißt du, wo hier Islambek, der Sohn von Schumabai, wohnt?“

„Ja“, entgegnete er, ohne sich zu rühren und schaute dabei sogar weiter in die Tiefe des vorüberfließenden Baches. „Ich bin Islambek.“

Der Mann lachte hinter ihm kurz und böse auf.

„Was willst du?“, fragte Islambek. Er wußte, daß es jetzt gefährlich war, sich umzudrehen, auch wenn er es zu gern getan hätte.

„Die Wahrheit.“

„Welche Wahrheit?“

„Wie du die Postkutsche ausgeraubt hast.“

Die Stimme des Mannes kannte Islambek nicht; sie war zu hoch und rein für einen Mann und nicht zart genug für eine Frau. Außerdem sprach er die kasachischen Worte genau so kaum merklich gepreßt aus, daß man sofort den Russen daran erkannte. Es mußte wohl derjenige von den russischen Gästen sein, den er für den jüngeren Bruder hielt. Und da hörte er, wie zur Bestätigung seiner Gedanken, das Geräusch des Spannens eines Abzugshahns.

„Ich habe es nicht getan“, sagte Islambek.

„Wer dann?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du bist gesehen worden. Auf dem Weg vom Paß. Du bist schnell geritten. An jenem Tag um die fragliche Zeit.“

Es stimmte: Islambek war an diesem Tag von dem Kujuk-Paß nach Dschuwala geritten. Doch zugeben wollte er das nicht. Die jungen Leute, ganz gleich ob Russen oder Kasachen, waren schnell in ihren Handlungen und dachten erst im nachhinein über ihre Taten nach. Er mußte stillsitzen, sich nicht rühren und gegebenenfalls versuchen, den Burschen zu beruhigen.

„An welchem Tag ist das gewesen?“, fragte Islambek.

„Vor vier Tagen.“

„Vor vier Tagen?“ Islambek überlegte... und „erinnerte“ sich auf einmal. „Vor vier Tagen war ich beim Imam Schaksalyk zu Gast.“

„An dem Tag schon,“, entgegnete die Stimme, „aber nicht zu der Zeit. Morgens hast du mit Tlenschi Boranbajew gekämpft, und danach hat dich niemand mehr gesehen.“

„Aber ich war dort!“

„Wenn du dort warst, wer ist dann den Weg vom Paß entlang ins Tal geritten?“

„Jemand anders.“

„Und wer kann dann das hier verloren haben?“

Über Islambeks Kopf hinweg flog eine Peitsche mit dem in den Griff eingeflochtenen Zeichen des Geschlechts der Kopalen. Diese Peitsche hatte Islambeks Großvater kurz vor seinem Tod geflochten und dem Enkel, als er sie ihm schenkte, mit auf den Weg gegeben: „Du hältst nun die Ehre deines Geschlechts in den Händen. Bewahre sie, wirf sie nicht achtlos fort.“

„Ist das deine Peitsche?“, fragte die Stimme.

„Ja, das ist meine.“

„Sie ist auf dem Paß gefunden worden. Im Steingeröll direkt vor der Kutsche.“

„Aber ich bin nicht dort gewesen!“, unterbrach Islambek die Stimme und sprang aus der Hocke auf.

Es fiel ein Schuß. Die Kartätsche pfiff über den Kopf des Dschigiten hinweg.

„Halt!“, befahlt die Stimme. „Mit dem zweiten Schuß mache ich dich fertig.“

Islambek gehorchte. Einen Schuß, wenn auch in die Luft, hatte er immerhin schon erzwungen. Eine Patrone weniger im Magazin, das war wenigstens etwas. Außerdem mußten auf das Donnern des Schusses hin der Vater mit den Frauen und der Schwägerin hinauskommen.

„Was willst du?“, fragte er matt und drehte sich wieder nicht um.

„Die Wahrheit.“

„Ich sage die Wahrheit. Ich war nicht auf dem Paß, ich bin seit langem nicht mehr dorthin geritten.“

„Und die Peitsche?“

„Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich sie habe fallen lassen. Ich hatte zuviel Kumys[8] getrunken. Die Sonne hat gebrannt, es war heiß, und da bin ich eingeschlafen.“

„Du lügst, Fremder!“, brüllte die Stimme. „Es ist alles gelogen.“, er zog am Abzugshahn. „Bete zu deinem Gott. Ich werde dich töten!“

Mit einem zu diskutieren, der Blutrache nehmen will, ist ebenso aussichtslos wie ein Kamel im Galopp vor eine Kutsche spannen zu wollen. Islambek beschloß, dem Tod ins Auge zu sehen.

„Halt!“, hörte er da eine zweite Stimme und sah zwischen sich und dem Gewehr einen Mann in einem weißen offenen Hemd. „Halt!“, wiederholte der Mann russisch, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und stieß einige müde Laute hervor. „Oder schieß!... Dann aber zuerst auf mich...“

Der Mann mit dem Gewehr war wirklich der russische Hüne, der in der Mitte der Jurte geschlafen hatte. Er war erregt, blaß und sein Mund war wutverzerrt.

„Slawka, geh weg!“, fuhr der junge Bursche auf. „Du hast doch keine Ahnung! Geh weg! Er hat es zugegeben! Er war es!“

Der Mann in dem weißen Hemd ging auf das Gewehr zu.

„Beruhige dich, Minka!“, sprach er dabei. „Lade keine Sünde auf dich!“, fuhr er fort, während er sich mit dem Oberkörper gegen den Gewehrlauf stemmte. „Und außerdem... du bist hier Gast... Du hast in ihrem Haus geschlafen...“ Er legte seine Hand auf den Lauf und entwand seinem Bruder behutsam das Gewehr. „Dummerchen“, sagte er zärtlich  und wandte sich daraufhin Islambek zu und sprach wieder Russisch. „Verzeih, Dschigit. Er ist noch zu jung, und der Gram ist groß. Damit ist er nicht fertiggeworden.“

Islambek nickte verständnisvoll. Er verspürte keinen Zorn gegen den Mann mit dem seltsamen Namen Minka, ebensowenig wie Dankbarkeit für dessen älteren Bruder. Nur die Beine waren ihm lahm geworden und er hatte großen Durst.

Jetzt erblickte er auch den Vater, der zusammen mit der Mutter an der Frauenjurte stand. Der Alte hatte ein Gewehr in der Hand, das noch vom Großvater stammte, und Tränen rannen ihm von selbst über die Wangen. Der Sohn sah die erregten Gesichter der Nebenfrauen des Vaters und die weit aufgerissenen Augen der Schwägerin. Barhäuptig, ohne ihre übliche Kopfbedeckung, sah sie ganz jung und außergewöhnlich schön aus. Die Kinder standen zwischen den Erwachsenen und sahen ihn ebenfalls vorwurfsvoll an.

Islambek überwand das Zittern, das ihn von innen überkam, und lächelte sie aufmunternd an. Der ältere Russe aber ging bereits auf den Vater zu. Er blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen, warf das Gewehr des Bruders ins Gras, fiel auf die Knie und senkte den Kopf.

 

„Verzeih, Aksakal[9],“, sagte er auf Russisch. „Wir stehen in deiner Schuld. Bestrafe uns, wenn du es für nötig hältst.“

Der Alte hatte sich schon wieder in der Gewalt. Ohne die feuchten Wangen abgewischt zu haben, zog er eine bedeutungsvolle und furchtgebietende Miene. Er hob die Hand und winkte Islambek zu sich heran. Offenbar hatte der Alte begriffen, daß der ältere Gast die kasachische Sprache nicht beherrschte, und wollte sich des Sohns als Dolmetscher bedienen.

„Was hat er gesagt?“, fragte er. „Warum wollte der dort, der andere, dich töten?“

„Sie sind die Kinder jenes Russen, der am Paß ermordet wurde“, antwortete Islambek. „Irgend jemand hat ihnen gesagt, ich sei es gewesen.“

Der Vater schwieg eine Weile. Er ließ seinen Blick langsam vom Gesicht seines Sohnes auf dessen Hände gleiten.

„Du hast die Peitsche?“, fragte er. „Großvaters Peitsche?“

„Ja.“

„Woher? Haben sie sie gebracht?“

„Ja.“

„Haben sie sie am Paß gefunden?“

„Ja, Ata[10]...“

Der Vater schürzte die Lippen. Er hatte alles begriffen.

„Du bist wieder dorthin geritten?“, fragte er.

„Ja, Ata. An eben diesem Tag.“

Islambek sah dem Vater tief in die Augen. Er fühlte sich schuldig.

„Sag dem Russen, er soll aufstehen...“, sagte der Vater, „und bitte ihn, nein beide, in die Jurte.“

Islambek übersetzte dem älteren die Worte des Vaters, rief den jüngeren und ging mit ihnen beiden und mit dem Vater in die Jurte für die Gäste.

Der Vater stieß mit dem Fuß die neben dem Beistelltisch liegende Decke fort, kreuzte die Beine, wie es im Orient üblich ist, und setzte sich.

Die anderen folgten schweigend seinem Beispiel.

Islambek bemerkte, daß ein zufriedenes Lächeln die Lippen des Vaters umspielte, als er zusah, wie geschickt die beiden Russen ihre Beine unter den kleinen runden Tisch placierten. Der Alte klatschte in die Hände, der Steppengrasvorhang, der den Jurteneingang verdeckte, wurde beiseite geschoben, und in der Öffnung erschien das neugierige Gesicht seiner Schwiegertochter. Der Alte sah bedeutungsvoll auf den leeren Tisch, woraufhin das Gesicht verschwand.

Die Männer schwiegen einige Zeit und vergegenwärtigten sich die Bedeutung der entstandenen Situation.

Es erschienen die Nebenfrauen. Sie schütteten Gebäck und fein gestoßenen Zucker auf den Tisch und deckten die Teeschalen stapelweise auf. Anschließend verschwanden sie wieder und kamen mit einem sprudelnden und nach dem Dampf von Heizziegeln aus getrocknetem Mist duftenden Samowar zurück.

Hinter ihnen trat die Bajbitsche ein. Sie setzte sich in die Nähe der Teeschalen und begann, sie mit Tee zu füllen und weiterzureichen – zuerst den Gästen in der Rangfolge des Alters, danach den eigenen Männern. Die Nebenfrauen waren aus der Jurte gegangen und hatten sich draußen verborgen, die Ohren aber an den Filz der Jurte gepreßt; sie waren ja so neugierig.

Der Vater fuhr sie laut an, so daß ein sich eilig entfernendes Fußgetrappel zu hören war. Erst danach begann der Alte das Gespräch:

„Mein Name ist Schumabaj“, sprach er, als alle ihre Teeschalen das erste Mal geleert hatten, und diese wieder mit dem duftenden Getränk gefüllt waren. „Ich ziehe zwischen Ala-Tau und Sary-Arka umher. Ich entstamme dem Geschlecht der Kopalen. In der Steppe kennt mich jeder. Ich bin nicht so reich wie Schaksalyk, aber das Fleisch meiner Hammel ist das beste im ganzen Kreis. Ihr seid meine Gäste, und ich sehe in Euch Gesandte Allahs. Ihr seid gekommen, über meinen Sohn zu richten, so ist es also der Wille Allahs.“ Er warf Islambek einen Blick zu und befahl: „Übersetz das.“

„Nicht nötig“, sagt der jüngere Gast, „ich werde es selbst übersetzen“, und er gab dem Bruder kurz die Worte des Alten wieder.

„Meinen Sohn trifft keine Schuld am Tod eures Vaters“, fuhr Islambeks Vater fort, „Schuldig gemacht hat er sich vor mir, vor dem ganzen Geschlecht der Kopalen, aber nicht vor euch Russen...“ Er schwieg und biß an dem Ende seines Schnurrbarts herum, was ein Zeichen für den Zustand höchster Erregung war, in dem er sich befand. Doch trotzdem gestand er ein: „Er ist zu einem Rendezvous geritten ... zu einer Kirgisin.“

Der jüngere Bruder gab auch das dem älteren wieder.

Wie würden die Russen das Gesagte verstehen? Wußten sie, daß die kasachischen und kirgisischen Geschlechter keine Blutsbindungen miteinander eingingen, obwohl sie schon seit tausend Jahren nebeneinander lebten? Selbst die Vorgebirgssteppen und Bergweiden waren nicht aufgeteilt, so daß noch vor nicht allzu langer Zeit, während der Herrschaft des Khans von Kokand, die Würdenträger Chudojars diese Völker gegeneinander aufgehetzt und durch diese Feindschaft ihren eigenen Wohlstand gemehrt hatten.

„Ist er ein Manap[11]?“, fragte der ältere Bruder, und der Alte verstand die Frage. Der Vater antwortete: „Ja.“

„Und Sie sind ein Bai?“, fuhr der Bursche fort. „Dann ist alles klar.“

Oh, solche Worte konnte der Alte nicht leiden! Er konnte sie überhaupt nicht leiden! Der alte Starrkopf wollte die russische Sprache nicht erlernen, doch die Worte von Armut und Reichtum verstand er in jeder Sprache. So war im letzten Winter, als die Familie durch Sary-Arka gezogen war, ein Kirgise eines Nachts an ihr Feuer getreten und hatte angefangen, über das Steuersystem des russischen Zaren zu philosophieren. Der Alte hatte sich schweigend seine Tirade darüber angehört, daß die Steuern wie unter dem Khan Chudojar so auch unter dem früheren Zaren Alexander und dem jetzigen Zaren Nikolaus die Armen noch ärmer machten und die Reichen noch reicher. Er hatte ihn bis zu Ende angehört und danach den Söhnen befohlen, den Kirgisen zu fesseln und nach Pischpek[12] zu bringen. Von dort, sagt man, soll der arme Teufel bis nach Wernyi[13] vor das Bezirksgericht gekommen sein.

Doch heute fing der Alte nicht an zu streiten. Was sagte man nicht alles, wenn der Vater getötet worden war und man nicht wußte, an wem man Blutrache nehmen sollte. Er klatschte in die Hände, und die Nebenfrauen trugen frisch zubereitete Hammelinnereien in die Jurte.

„Eßt nur“, sagte er zu den Brüdern und ging dazu über, sich zu brüsten: „Das Fleisch meiner Zuchthammel ist das beste im ganzen Bezirk.“

Die Russen begannen zu essen.

Der Vater führte bedächtig das Gespräch. Er scherzte, lachte in seinen spärlichen Bart hinein, hörte aufmerksam zu, wenn der jüngere Gast die Worte des älteren übersetzte, nickte mitfühlend, wenn vom Heldenmut des Toten die Rede war, stellte Überlegungen über die mutmaßlichen Mörder an und gab den Brüdern schließlich sogar einen sachkundigen Rat mit auf den Weg: sie sollten nach Taschkent fahren und sich dort einen Anwalt kaufen.

„Ein Verwandter von mir namens Ersat“, sagte der Alte, „hat sich lange mit einem Manapen um zwei Weiden am Fluß Susamyr gestritten. Er war beim Kadi. Und er war auch bei zwei weltlichen Richtern aus dem Kreis. Alles umsonst. Dann hat ihm jemand geraten, sich einen Anwalt zu nehmen. Er war einverstanden, holte einen Anwalt – und eine Woche später gehörten die Weiden am Susamyr ihm. So ein Anwalt ist ein sehr mächtiger Mann. Er kann alles. Er kennt das ganze Gesetz des Steppenlandes und alle Gesetze des russischen Staates. Aber er liebt auch viel Geld. Mir hat ein Anwalt selbst einmal gesagt: ‚Wer mehr zahlt, der hat auch recht. Anderer Beweise bedarf es nicht.‘

Die Russen hörten dem Vater aufmerksam zu und machten keinerlei Anstalten, sich loszureißen und sich auf den Weg zu machen. Der Alte, so schien es, war bereit, mit ihnen, wenn es sein mußte, bis in die Nacht hinein zu reden. Doch Islambek verstand, daß dieses langatmige Gespräch, das niemandem etwas nützte, nur eine kleine Rache an ihm war für die Momente der Unruhe, die der Vater erlebt hatte, als er sah, wie der Sohn dem Tod ins Auge blickte.

Wie gerne hätte Islambek es gesehen, wenn dieses Gespräch endlich zu Ende gewesen wäre und die Russen so schnell wie möglich gegangen wären, und sich der Vater, nachdem er sie hinausbegleitet und ihnen zum Abschied gewinkt hatte, ihm zuwenden, seinen Stock erheben und dem Sohn erst über den Kopf und dann über das Hinterteil damit eins überziehen und ausrufen würde: „Du sollst dich nicht herumtreiben! Du sollst dich nicht mit Kirgisinnen herumtreiben!  Ich habe dir immer gesagt, daß du dich nicht herumtreiben sollst. Um ein Haar hättest du mir den  Sohn genommen, und meine Herden wären in fremde Hände gelangt! Genügt dir der Tod deines älteren Bruders noch nicht? Genügt das nicht?“ Sollte er doch alles sagen, was er auf dem Herzen hatte, sollte er doch alles herausschreien, sollte er doch an Islambek seinen Stab zerbrechen. Dafür würde er anschließend, wenn er sich beruhigt hatte, schweigend seine Bitte anhören können...

Der Vater sollte Hochzeitsbitter zum kirgisischen Manapen Issa schicken, dem Vater der wunderschönen Alma, ohne die Islambek auch zuvor schon nicht hatte leben können, was ihm nun aber vollkommen unmöglich geworden war.

„Wer hat euch eigentlich die Peitsche gegeben?“, fragte der Vater plötzlich den Russen. „Ihr habt sie doch nicht wirklich selbst gefunden? Hatte niemand vor euch die Peitsche dort bemerkt?“

„Wieso wir selbst?“, entgegnete der jüngere, „Selichow hat sie uns gegeben.“

„Was für ein Selichow?“

„Der Gendarm aus Alie-Ata.“

Der Alte warf dem Sohn einen solchen Blick zu, daß dieser den Namen nie wieder vergessen würde.

„Selichow“, wiederholte er, als das Gespräch beim Essen der Hammelinnereien geführt wurde. „Selichow“, dachte er, als das Essen bereits vorbei und der Tee schon wieder eingeschenkt war. „Selichow“, ging es ihm durch den Kopf, während er den Russen zum Abschied zulächelte. Und „Se...li...chow“, flüsterte er, als er den davoneilenden Reitern hinterhersah.

Der Vater drehte sich jäh zu ihm um, doch er schlug ihn nicht mit dem Stock, ja er drohte nicht einmal damit. Er sah den Sohn nur durchdringend an und sagte:

„Ich weiß, daß du den Russen in dem Zweispänner nicht getötet hast. Es ist mir auch gelungen, das den Söhnen des Ermordeten klarzumachen. Doch ich verfüge nicht über das nötige Geld und die ausreichende Anzahl von Hammeln, um es dem russischen Gesetz und einem russischen Anwalt zu erklären. Ich möchte nicht auf meine alten Tage am Hungertuch nagen müssen. Schlagen müßte ich dich auf die althergebrachte Art: mit dem Stock auf die nackte Haut. Doch dazu haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen für dich schnellstmöglich ein Alibi für das russische Gericht schaffen. Steig sofort auf dein Pferd und reite zum Manapen Issa. Leg dich krumm, krepier in seiner Jurte, aber erwirke seine Erlaubnis zu der Heirat. Hast du sein Einverständnis, erzähl davon jedem, den du unterwegs triffst. Mach es so, daß sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet und mich noch vor deiner eigenen Rückkehr erreicht.

„Danke, Ata!“, rief Islambek aus und fiel dem Vater zu Füßen.

Der Vater stieß ihm leicht mit dem Fuß an die Schulter.

„Reite los“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich verletze die Bräuche unserer Vorfahren, um den Fortbestand unseres Geschlechts zu sichern. Heirate deine Kirgisin, aber...“, er machte eine Pause und fuhr bereits drohend fort, „zu deiner zweiten Frau nimmst du die Frau deines verstorbenen Bruders.“

„So soll es sein...“, vernahm Islambek die leise Stimme der Mutter, und als er sich umsah, erblickte er ein Lächeln auf ihrem verweinten Antlitz.

 

 

© für die Übersetzung: Carola Jürchott

 



[1] mittelasiatische ehrerbietige Anrede für eine ältere Frau

[2] Mutter

[3] mittelasiatischer Feudalherr

[4] mantelartiges , von einem Gürtel zusammengehaltenes Gewand in Mittelasien

[5] aga – ehrerbietige Anrede für älteren Mann

[6] Strauchgewächs in der Halbwüste

[7] in Mittelasien verbreitetes Reiterspiel. Ein Reiter hat an einer Seite des Pferdes einen toten Ziegenbock, den ihm die anderen abzujagen versuchen

[8] gegorene Stutenmilch

[9] ehrerbietige Anrede für einen älteren oder höherstehenden Mann. Wörtlich: Weißbärtiger.

[10] Vater

[11] Vertreter der kirgisischen Feudalaristokratie

[12] früherer Name der kirgisischen Hauptstadt Bischkek

[13] früherer Name der kasachischen Stadt Alma-Ata

Hosted by uCoz