Valerij Kuklin

 

Der Dunst des Vaterlands

 

                          Ach, wenn man Reisen macht und dann nach Hause kehrt,

                          Ist selbst der Dunst des Vaterlands uns teuer!

(Alexander Gribojedow)

 

Ich fuhr durch Moskau und kam mir vor wie ein alter Trottel. Nicht ein bekanntes Gesicht – nur eine endlose Menschenmenge eilte in der Umgebung jener Straßen, Häuser, Plätze und Denkmäler umher, wo vor vielen Jahren nicht ein Tag vergangen war, ohne dass ich bis zu fünfmal hintereinander an einem Tag auf jemanden getroffen war, den ich lieber überhaupt nicht gesehen hätte, oder auf jemanden, mit dem ich liebend gern ins Kino, in eine Kneipe oder einfach nach Hause gegangen wäre, um zu reden, über dies und das zu plaudern, fürchterlichen Portwein zu trinken und wüst auf die Sowjetmacht zu schimpfen, die wir doch eigentlich nur lieben, preisen und ihr dankbar sein sollten.

Zehn Jahre Emigration, sechzehn Reisen nach Indien, Amerika, Australien und sogar nach Afrika hatten mir diese Stadt entfremdet, hatten mich, den ehemaligen Moskauer, zu einem Fremden in dieser Stadt gemacht. Und auch die Stadt selbst hatte sich verändert, sie ähnelte jetzt eher einer Mischung aus den Kulissen von Gorkis „Nachtasyl“ im Moskauer Künstlertheater und Ostrowskis „Das tolle Geld“ in der Niederlassung des Maly-Theaters[1]. Die Fülle an Reklametafeln mit der trockenen Ästhetik Westeuropas und kyrillischen Buchstaben hatten die Stadt zusätzlich vulgär und schwer verständlich gemacht, als ob man an den Drehort eines Hollywood-Studios gekommen wäre, wo ein Film über die russische Mafia gedreht wurde. Ständig wartete man auf den Auftritt eines Generals mit übermäßig großen Schulterstücken und reihenweise Sternen eines Helden der Sowjetunion an der Brust. Mit einem Wort, das Moskau des Jahres 2002 erschien mir wie eine gigantische Kulisse, die nach der Inspiration eines verrückten millionenschweren Requisiteurs zu dem Zweck geschaffen worden war, mich hierher zu locken und zu fragen: „Was zum Teufel willst du hier?“, damit ich hätte antworten können: „Rutsch mir den Buckel runter!“ Damit wäre der Dialog beendet gewesen. Denn von dem heruntergekommenen Flughafen Scheremetjewo-2 starteten immer noch Flugzeuge, und irgendwie kamen sie auch auf den Flughäfen zivilisierter Länder an. Zeig dein Ticket und flieg zu dir nach Hause!

Das hätte ich wahrscheinlich auch getan, gleich als ich die Gangway verlassen hatte und mich in dem schwach beleuchteten Flughafengebäude, in dem es aus irgendeinem Grunde nach Schweiß und Eisenbahntoilette roch, wiederfand, wo meine Papiere kontrolliert wurden und man mir dann gestattete, meinen über das Gepäckband gleitenden Koffer am Henkel aufzufangen. Doch vor der Tür sollte mein nichtsnutziger Sohn auf mich warten, der sich vor zwölf Jahren geweigert hatte, nach Deutschland auszureisen, und wegen der Schlitzaugen einer anmutigen Halbtatarin und Halbrussin hier geblieben war. Er hatte mir in all den Jahren fast nicht geschrieben, und wenn er plötzlich doch geschrieben oder angerufen hatte, dann nur, um mich um Geld zu bitten, das ich ihm sofort nicht etwa normal überweisen oder per Postanweisung schicken sollte, wie es in zivilisierten Ländern üblich ist, sondern mit einem unserer Bekannten mitgeben, die nach Moskau fuhren oder über die Hauptstadt unseres Heimatlandes in die ehemaligen Kolonien reisten, die nun zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten geworden waren.

Wenn es auf der Welt ein noch absurderes und törichteres Land gab als die UdSSR, die ich verlassen hatte, war es das unabhängige Russland, welches ich nun antraf. Die deutsche Journaille hatte dieses Dreckloch in Fernsehen und Presse so anschaulich dargestellt, dass sich mir bei dem bloßen Gedanken, eine Zeit lang in Moskau leben zu sollen, schon der Magen umdrehte. Und warum zum Teufel hatte Wadim sich dieses Mal nicht wieder mit einer Überweisung begnügen können, warum hatte er darauf bestanden, dass ich selbst kam? Es war niemand da, der mir das hätte beantworten können, denn mein Sohn war nicht nach Scheremetjewo gekommen, um mich abzuholen.

Hatte wohl angefangen zu saufen... Oder hat, wie man es von je her in Russland gewöhnt war, bis zur letzten Minute gewartet, ehe er zum Flughafen losgefahren war, und hatte dann den Bus verpasst. Und für ein Taxi hatte er wie immer kein Geld gehabt. Oder sein schlitzäugiges Weib, das er trotz allem geheiratet hatte, hatte ihn einkaufen geschickt, und dort war er dann von Rowdys angepöbelt worden – und so weiter und so fort. Das war alles völlig normal in Russland. Als ich hier gelebt hatte, war ich selbst nicht besonders pünktlich gewesen, und wenn ich Freunde oder Verwandte abholen sollte, war ich fast jedes zweite Mal zu spät zum Bahnhof gekommen. Wer pünktlich war, galt, wie man damals sagte, als Miststück. Denn das war unsere kleine Rache an jener gesichtslosen Macht gewesen, die Nomenklatur genannt wurde und die auf Tribünen und im Fernsehen irgendetwas von Disziplin brüllte, von der Erhöhung der Arbeitsnormen und weiß der Teufel was nicht noch alles. Während der Herrschaft Boris Jelzins hatte sich hier wohl nichts geändert. So fuhr ich also allein an den Stadtrand, in die Plattenbausiedlung Orechowo-Borissowo.

Der Gestank, der Dreck, das Gedränge, die selbstgefälligen Kaukasier mit ihren behaarten Fingern, die von der Last der goldenen Ringe heruntergezogen wurden, die eingeschüchterten Visagen der meisten Russen, die malmenden Kiefer der jungen Spunde und die schamlos ans Ohr dringenden lauten Flüche aus dem Munde von Leuten, die auf den ersten Blick eigentlich ganz anständig aussahen... Moskau betäubte einen nicht wie beispielsweise New York, bewirkte keine unwillkürliche Anspannung wie London und verblüffte nicht wie der Blick vom Eiffelturm. Es lebte einfach und atmete den Gestank, es spottete mit den strengen Linien der neugebauten Wolkenkratzer, die wie Zahnprothesen in die Höhe ragten, über den ständig fortschreitenden Verfall der alten Häuser. So muss es wohl in Rom zur Zeit der Barbarenüberfälle gewesen sein.

Irgendwann wurde unsere Familie unter dem Vorwand, dass unser altes Haus rekonstruiert werden sollte, aus der Bolschaja-Ordynka-Straße im Zentrum von Moskau an den Stadtrand vertrieben. Meine Frau, die eine halbe Stunde Fußweg vom Kreml entfernt aufgewachsen war, hatte der Ordnung halber ein bisschen gestöhnt, sich nach dem Umzug aber mit den nunmehr neunundsechzig Quadratmetern statt der zwölf, die wir vorher hatten, abgefunden. Auch wenn sie sich mehr als ein Jahr lang darüber beklagt hatte, dass der Weg zur Bushaltestelle ihr immer wie ein Hindernislauf bei der Sportprüfung vorkam. Aber als dann um das Haus herum alles in Ordnung gebracht worden war, hatte sie aufgehört, sich zu beklagen und seufzte nur noch manchmal, wenn sie daran dachte, wie sie in das Pionierhaus in der Poljanka-Straße gegangen war oder sich mit mir heimlich an der Metrostation Dobryninskaja getroffen hatte, damit ihr Vater es nicht merkte. Sie war die Geduld in Person gewesen. Hätte Mascha die Perestroika noch erlebt, hätte sie nicht mit mir in den Westen gehen wollen, sondern hätte den Zeitungen unter Gorbatschow zugestimmt, die verkündeten, dass das Chaos, das über uns hereingebrochen war, lediglich vorübergehende Schwierigkeiten waren, die man überwinden musste, um den Sozialismus vollständig aufzubauen. Und ohne sie wäre ich auch nicht weggegangen. Mascha war also rechtzeitig gestorben, obwohl sie mir all die Jahre gefehlt hat...

Darüber und über vieles andere dachte ich auf dem Weg von Scheremetjewo-2 nach Orechowo-Borissowo nach, wohin ich fuhr wie ein echter Moskauer: zuerst mit dem Bus, dann mit der Metro und dann wieder mit dem Bus, genauso, wie ich einst von hier aus zur Arbeit in der Nähe der Metrostation Retschnoj woksal gefahren war, wo sich unser streng geheimes Forschungsinstitut mit seinem Übermaß an bewaffneten Wachen und den miserablen Gehältern für die wissenschaftlichen Mitarbeiter befand. Fast hätte ich meine Haltestelle verpasst, weil ich sie wegen der vielen Anhänger, Kioske und anderen Verkaufsstellen nicht erkannte, die sich nun auf allen mehr oder weniger freien Flächen breit gemacht hatten, und auch wegen der riesigen Reklametafel für „Pager“, die in kyrillischen Buchstaben gedruckt und daher um so unverständlicher war. Außerdem gab es hier noch Werbetafeln für Lebensmittel mit fremdländischen Namen, die kyrillisch geschrieben waren, Aushänge von Restaurants, die Gott weiß woher gekommen waren, Teestuben, Fotostudios und einem erst recht deplazierten Casino an der Stelle, wo früher der Bäcker gewesen war. Doch der Busfahrer sagte meine Straße an, und ich beeilte mich, zum Ausgang zu kommen. Ich sah mich um und vergewisserte mich, dass ich wirklich richtig war – es war tatsächlich meine Haltestelle. Woran ich sie aber erkannt hatte, konnte ich trotzdem nicht nachvollziehen. Durch ein Loch in der riesigen grauen Wand des Hauses, das an der Haltestelle stand, sah ich die Ecke des großen grauen Hauses, in dem ich einmal gewohnt hatte. Dorthin ging ich also und zog den Kopf ein, um mich vor der hier ständig herrschenden Zugluft zu schützen.

Doch auch im Innenhof sah ich niemanden, den ich kannte. Obwohl ich die Nachbarn bestimmt sofort erkannt hätte. Wir hatten schließlich dreizehn Jahre lang Tür an Tür gewohnt, uns auf der Straße getroffen, im Geschäft oder auch bei Versammlungen auf dem Hof, wo wir vor Arbeitseinsätzen zusammengetrommelt wurden, die mal anlässlich des Geburtstages von irgendeinem Führer des Weltproletariats stattfanden, mal anlässlich des Tages des Sieges, und später anlässlich des Kampfes von Jelzin gegen Gorbatschow um das Recht, ausgerechnet im Kreml fressen und seine menschlichen Bedürfnisse befriedigen zu dürfen.

Die Sprechanlage am Hauseingang war kaputt, um sie herum sah man drei Abdrücke dreckiger Schuhsohlen. Die Tür zu dem schmutzigen Hauseingang, der aussah wie in einem Farbigenghetto, ließ sich leicht öffnen. Der Fahrstuhl funktionierte erstaunlicherweise, obwohl es darin nach Urin roch und die Knöpfe angesengt und zum Teil geschmolzen waren. Irgendwer hatte wohl aus lauter Übermut mit einem Feuerzeug daran gekokelt.

Das Kunstleder an der Tür meiner früheren Wohnung war jedoch noch dasselbe wie vor zwanzig Jahren. Ich hatte die Tür selbst damit verkleidet. Als meine Frau das Ergebnis gesehen hatte, war sie begeistert gewesen und hatte mir vorgeschlagen, das ganze Forschungsinstitut sausen zu lassen und nur noch auf Bestellung Türen zu verkleiden. Bei meinem Talent, meinte sie, würden wir in einem Jahr einen Moskwitsch haben und vielleicht sogar einen Lada. Wir haben damals sehr über ihren Vorschlag gelacht. Fünf Jahre später habe ich tatsächlich angefangen, mir mit dem Verkleiden von Türen etwas dazu zu verdienen. Aber nur an Wochenenden und nur für Bargeld. Dieses Zubrot hat meinen Beitrag zum Familienbudget gut fünfzehn Jahre lang verdoppelt. Als dann die Zeit der Kooperative kam, haben mir zwei sehr breitschultrige, Kaugummi kauende junge Männer unmissverständlich klar gemacht, dass die Besitzer unverkleideter Türen meine Dienste nicht mehr benötigten und dass sich damit jetzt Leute befassten, die mehr Talent hätten als ich. Zwei Wochen lang ging ich nur mit einer dunklen Sonnenbrille zur Arbeit, doch ihre Erläuterungen habe ich bis heute nicht vergessen, weil ich seitdem nie wieder eine Tür mit Kunstleder verkleidet habe, weder in Russland, noch in Deutschland oder irgendeinem anderen Land.

Ich drückte auf den Klingelknopf, und drinnen in der Wohnung war ein leises Summen zu hören. Das war die zweite angenehme Überraschung in Moskau nach dem funktionierenden Fahrstuhl.

Im Innern der Wohnung waren nun Schritte zu hören, und eine gereizte Frauenstimme klang durch die Tür, als würde sie direkt neben mir stehen:

„Mein Gott, ich komm ja schon! Musst du denn gleich Sturm klingeln?“

Das Schloss klickte, und die Tür ging auf.

Ich war verwirrt, denn ich hatte gehofft, das Gesicht der Frau zu sehen, die mir geöffnet hatte, doch ich sah nur, wie sich ein Rücken in einem violetten flauschigen Bademantel mit rotem Muster in dem spärlich beleuchteten Korridor wieder entfernte. Ich trat ein.

„Tür zu!“, befahl sie und drehte sich nicht einmal für diese Bemerkung um.

Ich schloss die Tür und stellte meinen Koffer ab.

„Guten Tag“, sagte ich und versuchte, auf den Namen meiner Schwiegertochter zu kommen, denn ausgerechnet jetzt war er mir entfallen.

Die Frau drehte sich um. Ihr unbekanntes Gesicht drückte Verwunderung aus.

„He! Wer bist du denn?“, fragte sie.

In ihren Gesichtszügen war etwas, das auf orientalische Vorfahren hindeutete, doch sie hatte nichts von jener Halbtatarin, die damals meinen Sohn verführt hatte.

„Verzeihen Sie“, sagte ich. „Ich dachte, ich würde hier doch erwartet werden.“

Die Frau maß mich mit Blicken, und plötzlich lächelte sie.

„Ach, Sie sind das also?“, sagte sie. „Ich habe Sie nicht erkannt.“

„Ich Sie auch nicht“, gestand ich.

„Kommen Sie doch rein“, schlug die Frau freundlich vor. „Warum stehen Sie denn im Korridor? Bleiben Sie lange?“

„Wie es sich ergibt.“ Ich zuckte die Achseln. „Ich bin jetzt Rentner.“

„Ja, den Rentnern geht es jetzt gut“, stimmte sie zu. „Nicht so wie früher.“

„Was war denn früher?“

„Lassen wir das“, meinte sie. „Wir reden später.“ Damit verschwand sie hinter der Tür, die zur Toilette gehörte. „Legen Sie doch ab und treten Sie ein“, ertönte es nun schon von dort.

„Danke“, erwiderte ich, von diesem unerwarteten Empfang entmutigt.

Ich fing an, meinen Mantel auszuziehen, und merkte erst jetzt, dass ich meine Schwiegertochter gar nicht nach meinem Sohn gefragt hatte. Andererseits, da sie überhaupt nicht aussah wie diese Halbtatarin, konnte es ja auch sein, dass sie gar nicht meine Schwiegertochter war, sondern irgendeine Verwandte meiner Schwiegertochter. Und mein Sohn war mit Amina (endlich war mir ihr Name wieder eingefallen!) zum Flughafen gefahren, um mich abzuholen, und sie war zu Hause geblieben. Gleich würde sie aus der Toilette kommen und mich fragen, warum ich allein gekommen war.

„Sind Sie allein gekommen?“, ertönte ihre Stimme aus der Toilette.

„Ja.“

„Und warum?“

„Einfach so“, ich zuckte mit den Schultern und begann, meine Schuhe auszuziehen (in Russland ist es schließlich üblich, die Schuhe in der Wohnung auszuziehen), „es hat sich so ergeben.“

„Es ist doch immer dasselbe mit euch Männern: Erst versprecht ihr alles mögliche und dann drückt ihr euch darum“, erklärte sie durch die Tür hindurch. „Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich von hier mit Ihnen rede, oder?“

„Nein, nein“, sagte ich beschwichtigend.

Ich ging ins Wohnzimmer. Die Möbel waren noch immer dieselben, die ich meinem Sohn vor zwölf Jahren hinterlassen hatte. Nur dass alles alt geworden und ausgeblichen war. Die Schrankwand aus DDR-Produktion, die wir irgendwann mal auf Kredit gekauft hatten und auf die meine Frau und ich so stolz gewesen waren, dass wir in der ersten Zeit sogar extra noch Besuch eingeladen haben, kam mir jetzt abgenutzt vor und taugte, wie man in Deutschland sagen würde, nur noch für den Sperrmüll. Und das Sofa aus der Moskauer Möbelfabrik sah furchtbar unbequem aus, obwohl es bisher weder auseinandergefallen noch der Bezug abgewetzt war, wie es bei Möbeln der vielgerühmten deutschen Qualität wohl der Fall gewesen wäre. Sogar die Stühle waren noch immer dieselben, die, die wir schon aus der Bolschaja Ordynka mit hierher genommen hatten. Auf dem Fensterbrett stand der Blumentopf mit dem unverwüstlichen Basilikum, den meine Frau von ihrer Großmutter geerbt hatte. In unserer Familie war man davon überzeugt, dass es kein besseres Mittel gegen Hämorrhoiden gäbe. Ich selbst habe nie an dieser Krankheit gelitten, doch viele unserer Bekannten hatten seine Zweige verwendet, und ausnahmslos alle sagten, dass ihnen das Basilikum geholfen habe.

„Was denn – Sie sehen aus dem Fenster?“, ertönte hinter mir immer noch dieselbe Stimme. „Das mache ich auch immer, wenn ich auf sie warte. Von der Haltestelle gehen sie immer durch dieses Haus. Sind Sie auch so gekommen?“

„Ja.“

„Ich steige immer eine Haltestelle früher aus. Da ist es zwar weiter, wenn man durch die Höfe geht, dafür zieht es nicht. Wenn man hier durch dieses Loch läuft, tun einem hinterher immer gleich die Knie und die Eingeweide weh. Ich sag auch immer zu Amina: Wenn du jeden Tag durch dieses Loch gehst, willst du irgendwann überhaupt keinen Sex mehr.“

„Sind Sie ihre Schwester?“, fragte ich, entmutigt durch die derart freimütigen Sentenzen meiner Gesprächspartnerin.

„Aber nein“, antwortete sie. „Ich bin Wadims Frau.“

„Seine Frau?“, staunte ich. „Und Amina?“

Ich drehte mich zu ihr um.

Die Frau sah mir gerade und ehrlich ins Gesicht, wodurch mir ihr Blick an sich und auch ihre Worte schamlos erschienen.

„Sie ist auch seine Frau. Sind Sie denn nicht sein Vater?“

„Doch.“

„Na also.“ Sie nickte zufrieden. „Ich sehe doch, dass Sie das sind. Ich habe Sie erst jetzt erkannt. Wadim hat Fotos von ihnen, die hat er uns gezeigt.“

„Gut, gut...“ Plötzlich wurde ich verlegen. „Aber wissen Sie... Sie sind seine zweite Frau, ja? Und Amina ist dann die erste.“

„Wenn Sie so wollen, nennen Sie es so“, stimmte sie zu. „Doch bei uns heißt das anders: Hauptfrau und Nebenfrau. Ich bin die Nebenfrau.“ Jetzt hatte ich begriffen.

„Dann ist Wadim jetzt also Moslem, oder was?“

„Wieso Moslem?“ Die Frau verstand nicht.

 Bei Tageslicht und im Laufe dieses Gesprächs betrachtete ich sie jetzt genauer: Sie war größer als mittelgroß, schlank, hatte eine kräftige, sportliche Figur, ein anmutiges Gesicht, braune Augen und wirkte wie etwa fünfundzwanzig Jahre alt.

„Wenn er doch zwei Frauen hat“, antwortete ich. „Eine Hauptfrau und eine Nebenfrau.“

„Na, das sehen Sie aber ganz altmodisch“, sagte sie lächelnd, und dieses Lächeln machte sie gleich fünf Jahre jünger. „Setzen Sie sich doch bitte. Möchten Sie Tee? Ich würde Ihnen auch etwas zu essen machen, aber ich denke, wir sollten besser auf Wadim und Amina warten. Sie haben sich schließlich zwölf Jahre nicht gesehen.“

„Ich möchte Tee“, sagte ich unmissverständlich, denn ich dachte, während sie in der Küche zu tun hätte, würde ich Gelegenheit haben, die Neuigkeit, die mir diese Frau soeben mitgeteilt hatte, auf mich wirken zu lassen. „Und sagen Sie mir doch bitte, wie heißen Sie?“

„Ach natürlich“, rief sie aus. „Sie kennen mich ja gar nicht!“ Sie reichte mir die Hand und stellte sich vor: „Aischa.“

„Sehr angenehm“, erwiderte ich, schüttelte ihr die Hand und stellte mich selbst vor: „Wadims Vater. Also was soll’s: Sagen Sie ‚Papa’ zu mir!“

„In Ordnung, Papa!“ Sie lachte und ging in die Küche.

Ja, seit dem Ende der Konfrontation des kapitalistischen und des sozialistischen Lagers hatte sich die Welt grundlegend verändert. Vor zwölf Jahren hatte mich die Ankündigung meines Sohnes, dass er eine Halbtatarin heiraten wolle, wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, und jetzt nahm ich nicht nur gelassen auf, dass er zum zweiten Mal eine Frau orientalischer Herkunft geheiratet hatte, sondern auch, dass er mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet war. Amina hatte ich nicht einmal kennen lernen wollen, und dieser Frau reichte ich die Hand und bot ihr an, mich ‚Papa’ zu nennen. Das Leben in Deutschland mit seiner gesetzlich festgeschriebenen Toleranz, Wand an Wand mit einem Chinesen und zwei Wohnungen weiter – eine türkische Familie, deren Kinder sich bei mir wie zu Hause fühlten, hatte mir jenen althergebrachten deutschen Hochmut ausgetrieben, mit dem ich gegen die unüberlegte Heirat meines Sohnes protestiert hatte.

Damals hatte er mir gesagt, ich sollte mich in mein geliebtes Deutschland zu den Faschisten scheren, denn nach seiner Auffassung war ich selbst ein Faschist und dachte nur daran, wie schwer ich es selbst während des Krieges und danach gehabt hatte, und wollte nicht sehen, wie die russischen Nachbarn mir und meiner Mutter geholfen hatten. Er brüllte, dass Leute meines Schlages nur das Schlechte im Gedächtnis behielten und sich an das Gute nicht erinnern wollten, dass Stalin Recht gehabt hätte, als er die Wolgadeutschen zwangsumgesiedelt hat und dass sie nun, mit ihrer massenhaften Flucht, dem Verrat und der Feststellung, dass nicht Russland, sondern Deutschland ihre Heimat sei, bewiesen, wie ihre Väter und sie selbst gehandelt hätten, wenn Hitler bis zur Wolga vorgedrungen wäre, wenn die Russlanddeutschen dort geblieben wären. Er schrie, dass Russland vor zweihundert Jahren die vertriebenen Deutschen aufgenommen hätte, Menschen, die in ihrer Heimat nicht gebraucht wurden, die das Land nun wieder als die wohlhabendsten Menschen verließen, als Menschen, die im Vergleich zu den anderen Nationen der UdSSR die reichsten wären.

Ich entsinne mich, dass ich ihn auch angebrüllt habe und als Verräter beschimpft habe, dass ich zu ihm von der Arbeitsarmee gesprochen habe, wo sein Großvater gestorben war, von der Kommandantur, wo auch ich, obwohl ich noch minderjährig war, mich regelmäßig melden und dann nachts durch die Steppe in den Kolchos zurücklaufen musste, wo mich schon der Mähdrescher erwartete, der sein Lebenslicht schon fast ausgehaucht und den ich eigenhändig wieder zusammengebaut hatte; ich habe ihm davon erzählt, dass nicht wir Deutschen, die wir von morgens bis abends auf den Feldern und in den Werkstätten schufteten, die Orden bekamen, sondern die faulen Kasachen, die sich vor dem Wehrdienst drückten, weil ihre Verwandten in den Wehrbezirkskommandos, den Kreiskomitees der Partei und den Exekutivkomitees der Kreise saßen.

„Du tust auf jeden Fall gut daran zu gehen“, hatte Wadim mir zum Abschied auf eben jenem Flughafen Scheremetjewo-2 gesagt. „Mit solchen wie dir werden wir das neue Russland nicht aufbauen. Die Geschichte hat uns die Chance gegeben, uns vom Ballast potenzieller Verräter zu befreien. Lebwohl, Vater.“

Und dann hatte er drei Jahre lang nichts von sich hören lassen. Auf meine Briefe hatte er nicht geantwortet, und wenn ich anrief, sprach er nüchtern mit mir, betont höflich. Geschrieben hat er mir im Oktober dreiundneunzig. Er bat mich, eindeutig rechte deutsche Zeitungen mit Artikeln darüber aufzutreiben, wie die deutschen Neofaschisten Jelzins Putsch und den Beschuss des Weißen Hauses bewerten. Nachdem er mein Päckchen mit den drei Hundertmarkscheinen, die ich in die Zeitungen hineingelegt hatte, erhalten hatte, rief er mich selbst an und sagte:

„Wenn du die Zeitungen gelesen hast, musst du doch begreifen, wem der Oktoberputsch genützt hat.“

Ich hatte ihm geantwortet, dass in Russland die Leute viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt seien und glaubten, dass das Schicksal ihres Landes irgendwen im Westen wirklich interessierte, habe ihm gesagt, dass es hier allen völlig egal wäre, wer im Kreml saß während die Völker im 150 Millionen zählenden Russland an Hunger und Krankheiten starben, dass die westlichen Massenmedien nur damit Geld machten, dass sie über Katastrophen und Überfälle von Banditen auf seine einfachen Landleute berichteten, dass er schleunigst einen Antrag auf Übersiedlung nach Deutschland stellen sollte, wenn nötig, auch mit Amina, denn sie würde hier unter den so genannten Paragraphen 7 fallen und könnte nach einem halben Jahr ganz legal eine richtige Deutsche mit deutschem Pass werden, da die biologische Abstammung in Westeuropa überhaupt keine Rolle spielte und das Wort „Nationalität“ gar nicht existierte.

„Du hast dich für ein bisschen Fettlebe verkauft, Vater“, hatte er gesagt und aufgelegt.

Jetzt hatte er es sich anscheinend anders überlegt. War wohl in die deutsche Botschaft gegangen und hatte ein Antragsformular für die Ausreise bekommen, und da gab es einen Punkt. „Haben Sie deutsche Bräuche gepflegt und deutsche Feste gefeiert?“ Und er würde antworten müssen: „Ich habe zwei Frauen.“ Was sollten die Deutschen davon halten? Obwohl ja inzwischen auch Deutsche zum Islam übertraten, nur eben keine Russlanddeutschen, sondern einheimische. Ob das so eine Mode bei denen war oder ob sie auf diese Weise vor ihrer pornographischen Wirklichkeit flüchteten, ich wusste es nicht, aber viele ließen sich beschneiden und gingen in die Moscheen. In den Zeitungen stand, dass es schon mehr als zweihunderttausend in Deutschland waren. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe, das heißt, Moslem zu sein erlaubten die deutschen Gesetze den Russlanddeutschen erst dann, wenn die Russlanddeutschen Bürger Deutschlands geworden waren. Ich hatte das Wadim mal geschrieben (nicht so vordergründig natürlich, sondern als es sich gerade anbot). Nun hatte er mich wohl eingeladen, um alles aufzuklären. Und um gleichzeitig seine Ausreise zu beantragen, wie es sich gehörte. Aus dem anderen Antrag, damals vor zwölf Jahren, hatte er seinen Namen noch eigenhändig gestrichen. Und dass er nur mit einer Frau zum Flughafen gefahren war, lag wohl daran, dass er mich nicht gleich schockieren, sondern es mir nach und nach beibringen wollte. Nun gut, auch dafür war ich ihm dankbar...

„Sie sind ja wirklich genau so, wie Wadim Sie beschrieben hat“, sagte Aischa, als sie aus der Küche zurückkam. „Ich habe Sie gleich gemocht. Ehrenwort.“

„Wie denn das?“ Ich begriff nicht und war wieder verwirrt.

„Einfach so“, antwortete sie. „Wie einen Vater. Wissen Sie, Wadim sagt zu meinen Eltern auch ‚Mama’ und ‚Papa’. Sie lieben ihn doch so.“

„Ihre Eltern sind ... in Moskau?“, fragte ich und dachte daran, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden war, als Nichtrusse in der Hauptstadt des Landes mit den 140 Nationen eine polizeiliche Meldung zu bekommen.

„Aber nein! Wo denken Sie hin!“, entgegnete sie, nachdem sie ein Tablett auf den Tisch gestellt hatte. Nun verteilte sie auf dem mit einer Tischdecke gedeckten Tisch Teeschalen, zwei Teekannen aus Porzellan (eine große und eine kleine), eine Zuckerdose, eine Konfektschale mit Keksen und ein kleines Glas Honig. „Sie wohnen in Kasachstan. Im Gebiet Dschambul. Sagt Ihnen das was? Im Dorf Kenes.“

Mir stockte der Atem.

„Im nahen oder im fernen?“, fragte ich, nachdem ich mich geräuspert hatte.

In diesem Gebiet gab es nämlich wirklich zwei Dörfer, die Kenes hießen. Eines war von der Gebietshauptstadt etwa sechzig Kilometer entfernt und wurde deshalb „das nahe“ genannt, das andere war zweihundertfünfzig Kilometer weit weg und war entlang des Flussbettes des Flusses Talas gelegen, der von der Wüste verschlungen worden war. Dieses Dorf war während des Krieges ein Verbannungsort für Russlanddeutsche gewesen.

„Im fernen“, antwortete sie. „Dort, wo Sie im Krieg gewohnt haben.“

Vor dreizehn Jahren, unmittelbar bevor ich nach Deutschland gegangen bin, war ich in Kenes gewesen. Ich weiß nicht mehr, weshalb. Wahrscheinlich, um mich zu verabschieden. Ich habe mit den Alten geschwatzt und zehn Felle von Karakulschafen gekauft. Ich dachte, sie würden mir in Deutschland zupass kommen. Dem war aber nicht so – Europa brauchte unsere Karakulschafe nicht. Ich träumte nur davon...

Nichtsdestotrotz habe ich acht Jahre meines Lebens in diesem armseligen Aul verbracht. Auch 1991 sah es dort nicht besser aus – bei weitem nicht mehr so, wie als ich in den 60er Jahren hierher zu Besuch gekommen war. Damals, kann ich mich erinnern, hatte der Talas noch Wasser geführt, und bis zur Wüste waren es noch fünfzehn Kilometer gewesen, und der Kolchos, in dem die Karakulschafe gezüchtet wurden, hatte als sehr reich gegolten. Viele Leute waren noch da gewesen, die mich kannten und die ich kannte.

„Das Dorf gibt es noch?“, staunte ich. „Ich hatte schon gedacht, der Sand hätte es verschüttet.“

Als ich das letzte Mal da gewesen war, hatte ich an der Stelle, wo die verbannten Deutschen das Gebäude für den Dorfsowjet gebaut hatten, nur eine riesige Sanddüne finden können, die Wüste hatte sogar das Quartier der Expedition zum Kampf gegen die Pest, die Bibliothek, den Klub, viele Wohnhäuser und auch Gärten verschlungen. Entlang der ehemaligen Hauptstraße, die zu verschiedenen Zeiten mal Stalinstraße, mal Leninstraße und mal Ryskulowstraße geheißen hatte, stand ein großer, aus Saxaul und Tschingil[2]-Zweigen gewundener Zaun, an den ein großer Sandwall stieß. Und ringsherum nicht ein einziger Strauch, nicht der kleinste Grashalm. In der Sonne leuchteten nur die einst geweißten Lehmwände, von denen der Putz nun abblätterte, mit den Fenstern aus vielen kleinen Glasscheiben in Holzrahmen, von denen ebenfalls die Farbe abging.

„Kenes lebt“, antwortete Aischa. „Um die fünfzehn Höfe sind noch übriggeblieben.“

Mit diesen Worten machte sie sich daran, Tee in die Schalen zu gießen. Sie tat es ohne Hast, auf kasachische Art: Sie goss den Sud aus der kleinen Teekanne, bis der Boden der Schale bedeckt war, gab ebenso viel kochendes Wasser aus der größeren Teekanne hinzu, gab dem Ganzen mit einem kleinen Tropfen Milch aus der Milchkanne, die auf dem Tablett geblieben war, die richtige Farbe und reichte dann mir die erste Schale, woraufhin sie sich selbst die zweite eingoss. In diesen einfachen Bewegungen war bei ihr so viel Grazie, so viel Anmut, dass ich nicht an mich halten konnte und fragte:

„Sind Sie mit Wadim verheiratet?“

„Tut das denn etwas zur Sache?“, fragte sie.

„Natürlich. Soviel ich weiß, ist Bigamie in Russland verboten. Das heißt, sie führen mit Wadim keine Ehe, sondern Sie haben ein Verhältnis mit ihm, obwohl er eine gesetzmäßige Ehefrau hat. Um also Ihr Problem zu lösen, denke ich, Sie müssten eine Scheinehe mit mir eingehen. Und wenn wir erst in Deutschland sind, werden Sie mit Wadim und Amina zusammenleben, und ich werde Ihnen nicht im Weg stehen.“

Nur für einen Moment streifte mich ein Blick aus ihren wundervollen braunen Augen, und ich verstand sofort, dass meine kleine Schwindelei aufgeflogen war.

„Nun ja“, sagte ich daraufhin kühn, „ich leugne nicht, dass Sie mir gefallen, und dass ich insgeheim hoffe, dass Sie sich in Deutschland nicht von mir scheiden lassen, sondern, natürlich nur, wenn Sie das möchten, in Liebe und Eintracht mit mir leben werden. Was ist daran ungewöhnlich? Ich verstehe sehr wohl, dass der Altersunterschied groß ist, doch glauben Sie mir, ich weiß, dass ich kein Recht habe, Druck auf Sie auszuüben oder Sie zu irgendetwas zu überreden, doch es gibt tausend Argumente, die für meinen Vorschlag sprechen.“

„Ich liebe Wadim“, entgegnete sie nur. „Und Amina liebt ihn auch. Und Wadim liebt uns.“

„Und was schlagen Sie vor?“

„Nichts.“

„Nichts? Weshalb bin ich denn dann hergekommen?“

„Um Ihren Sohn zu sehen.“

Das waren einfache und zweifellos richtige Worte. Doch war ich ja nicht für ein bloßes Wiedersehen mit Wadim hierher gekommen, sondern um ihm zu helfen, die Ausreisepapiere für Deutschland zusammenzubekommen. Wir mussten uns beeilen, denn jedes Jahr, jeden Monat, ja fast jeden Tag wurden die Vergünstigungen für Russlanddeutsche gekürzt, es wurde immer schwerer, legal überzusiedeln. Es gab schon Gerüchte, dass das alte Gesetz über die Rückkehr bald ganz abgeschafft werden sollte. Viele von denen, die gleichzeitig mit mir, ihre Einladung erhalten, aber erst fünf Jahre später ausgereist waren, sahen nun in die Röhre: Ihnen wurde ihre Arbeitszeit in der Sowjetunion nicht mehr angerechnet, sie erhielten eine Rente in Höhe des Sozialhilfesatzes, und die Jungen erhielten weniger Sozialhilfe. Im Vergleich zu dem, was wir bei unserer Einreise bekommen hatten und was ich nun an Rente bekam, lebten die, die jetzt kamen, an der Armutsgrenze.

„Ich bin ein praktisch veranlagter Mensch“, erklärte ich daher. „Wenn ich schon zu Besuch gekommen bin, heißt das nicht, dass ich hier zur Erholung bin. Ich denke, ich sollte euch helfen, nach Deutschland auszureisen.“

Der Tee in der Schale war alle, und ich gab Aischa die Schale.

Sie schenkte mir nach und fragte:

„Warum essen Sie keine Kekse?“

„Ich mag Baursaks[3] lieber.“

„Wirklich?“, freute sie sich. „Amina und ich haben gerade welche gemacht, aber dann dachten wir, Sie hätten sich in Deutschland an Kekse gewöhnt. Wir haben extra deutsche gekauft.“

Ich sah genauer hin – und tatsächlich, die Kekse in der Schale waren eines jener sonderbaren Erzeugnisse deutscher Backkunst, wo der Ästhetik des Gebäcks mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem eigentlich Wichtigen – seinem Gehalt und seinem Geschmack.

„Nein“, sagte ich. „Solche Kekse esse ich nicht.“

Aischa sprang auf und eilte in die Küche, um gleich darauf mit einer großen Schüssel nach Teig und Pflanzenöl duftender Baursaks und Gebäckstangen zurückzukehren.

Und dieser Geruch ließ auf wundersame Weise das Bild einer alten Jurte aus meiner Erinnerung auferstehen mit einem alten Kasachen, der an einem großen Tisch mit niedrigen Beinen saß, neben ihm seine Frau, mit dem Samowar, der hinter ihr dampfte, und mit mir selbst, ihr gegenübersitzend – ein Junge noch, oder genauer, ein Halbwüchsiger, der gerade in die Phase des Erwachsenwerdens eingetreten war, mit dem ersten Flaum über der Oberlippe, auf den ich insgeheim sehr stolz war und den ich so bald wie möglich rasieren wollte, damit er dichter wuchs. Der Alte hatte mich aus den Fängen von Tschetschenen befreit. Sie waren ein Jahr, nachdem man uns ausgesiedelt hatte, in die Wüste gebracht worden. Die feurigen Kaukasier hatten ein Auge auf meine ältere Schwester geworfen. Da sie nicht im Kolchos arbeiteten, sondern sich mit kleineren Raubüberfällen und Viehdiebstählen durchschlugen, hatten sie etwas Geld. Davon wollten sie ein schön besticktes Tuch kaufen und es meiner Schwester schenken, um sie zu überreden, sich, wie man heute sagt, ihnen beiden hinzugeben. Das war in der Steppe völlig normal und für die Bergbewohner, die daran gewöhnt waren, jedes Jahr ins Tal zu fahren, erst recht. Doch meine Schwester war in einer gottesfürchtigen Familie aufgewachsen, in der bis zum August 1941 kein Russisch gesprochen wurde und in der alle altdeutschen Gebote beachtet wurden, die in Deutschland selbst schon seit hundert Jahren vergessen waren, einer Familie, in der keine andere als die katholische Kirche anerkannt wurde. Daher erschien ihr der Vorschlag der Tschetschenen so barbarisch, dass sie einen hysterischen Anfall bekam, der sich zu einem Nervenfieber steigerte. Sie war drei Tage krank, und auch, als sie schwach und ausgemergelt aufstand, erholte sie sich nur langsam.

Genau in diesen drei Tagen ihres Fiebers geschah das, was mich mit dem alten Kasachen verbinden sollte: Ich ging mit einem Messer auf einen der Tschetschenen los und fügte diesem hünenhaften Burschen von dreißig Jahren einen leichten Kratzer zu. Der erschrockene Tschetschene floh, doch in derselben Nacht lauerte er mir mit seinem Kumpanen bei einem riesigen Schober aus Baumwolle auf, die schon 1941 geerntet worden war, aber weil es an Transportmitteln fehlte, nie nach Dschambul gebracht wurde. Sie schickten sich an, mich nach Strich und Faden zu vermöbeln und sagten, sie würden nicht aufhören, bis sie mich zu Tode geprügelt hätten. Das Erscheinen des alten Kasachen mit seiner Flinte hat mir das Leben gerettet.

Danach habe ich Tee aus einer Schale getrunken, die mir die alte Bajbitsche[4], die Hauptfrau des Alten, reichte, und habe mir seine Betrachtungen darüber angehört, dass ein richtiger Mann Kränkungen, die seiner Familie zugefügt wurden,  nicht verzeihen könne, dass er nicht warten könne, bis ein Fremder, der die Gesetzesmacht ausüben dürfe, für ihn eintrete, sondern dass er selbst einen Weg finden müsse, den zu strafen, der ihn gekränkt habe.

„Kudaibergen Amsejews Frau hat gute Baursaks gebacken“, sagte ich, als ich begann, das Gebäck zu essen.

„Das war meine Urgroßmutter“, sagte Aischa.

Wieder begriff ich etwas, doch ich wollte das Schicksal nicht noch mehr herausfordern, und so sagte ich dieser Frau nichts von meiner Vermutung.

„Hervorragend!“, sagte ich und schloss genüsslich die Augen. „Ein echter Baursak!“

„Bäckt man das in Deutschland nicht?“, fragte sie und lächelte mich dankbar an.

„Doch schon“, sagte ich. „Aber nicht solche. Das Mehl ist dort ganz anders. So fein gemahlen.“

„Ja“, stimmte Aischa zu. „Für Baursaks braucht man besonderes Mehl. Aus der zwölften Mühle.“

An dieser Mühle in Dschambul hätten mich die Tschetschenen ein zweites Mal fast umgebracht. Vielleicht waren es Verwandte, vielleicht auch Spießgesellen meiner Feinde, mit denen ich nach dem, was meiner Schwester widerfahren war, einen offenen Krieg angefangen und mit der Unterstützung der Kasachen aus unserem Aul auch gewonnen hatte. Der Abschnittsbevollmächtigte des NKWD, der für die Ordnung in Kenes und den nahegelegenen Aulen, in denen ausgesiedelte Deutsche und Tschetschenen lebten, zuständig war, hatte unsere Peiniger in den Sowchos „Politabteilung“ überstellt, und von dort aus waren die beiden Räuber wegen der Mittäterschaft am Diebstahl volkseigenen Viehs in ein richtiges Lager gebracht worden. Die Schuld daran hatten die im Kreis verbliebenen Tschetschenen aus irgendeinem Grunde mir gegeben – und so fielen an der zwölften Mühle in der Schlange, die nach Mehl anstand, drei  Alte mit Messern über mich her – wohl in der Hoffnung, dass aus Angst, ihre Säcke zu verlieren, die Kolchosbauern sie nicht daran hindern würden, diese Rechnung mit ihrem Feind zu begleichen. Doch wieder war Kudaibergen Amsejew bei mir. Mit Peitschenhieben vertrieb er die Tschetschenen und schlug einem sogar ein Auge aus. Ich konnte lediglich einem von ihnen einen kräftigen Schlag auf den Solarplexus  verpassen. Wie dieser Krieg ausgegangen wäre, ich wusste es nicht, aber genau in diesem Herbst hatte man alle Tschetschenen zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren aus dem ganzen Gebiet zusammengerufen, sie in Waggons gesteckt und irgendwohin gebracht, weiter nach Osten.

Doch zweimal, als mein Leben am seidenen Faden gehangen hatte, hatte mich derselbe Mensch gerettet. Das durfte ich nie vergessen.

„Kudeke“, ich verwendete die ehrerbietige Anrede für Kudaibergen, „hat mir das Leben gerettet.“

„Ich weiß“, sagte sie. „Wadim hat es mir erzählt.“

Eigenartig – ich selbst konnte mich nicht daran erinnern, meinem Sohn von diesen zwei Begebenheiten erzählt zu haben. Ich hatte keine Zeit gehabt, und es hatte sich auch nicht ergeben. Der Tee war gerade alle, und ich reichte ihr meine leere Schale und war froh, dass ich hinter dieser Bewegung meine Verwunderung und Verwirrung verbergen konnte.

Sie schenkte ein, gab mir die Schale zurück und fragte:

„Und was hat Sie nach Moskau verschlagen?“

„Das Studium“, sagte ich. „Dann wurden wir auf die Betriebe aufgeteilt.“

Ich konnte ihr doch nicht erzählen, wie schwer es nach dem Krieg für einen Deutschen gewesen war, gerade an die Moskauer Technische Hochschule zu kommen, wie sonderbar mich die Lehrkräfte und Studenten in den ersten Studienjahren angesehen haben, wie viel Anstrengungen es mich gekostet hatte, ausgerechnet ein Diplom mit Auszeichnung zu bekommen, um dann wirklich in dem Forschungsinstitut arbeiten zu können, das mich interessierte, und dann die interessanteste Arbeit meines Lebens zu tun. Das Thema Berufsverbot war bei Emigrantentreffen völlig normal, doch jetzt erschien es mir gänzlich uninteressant. Ich hatte weder vor, es mit ihr, noch mit irgendeinem anderen Bürger Russlands zu erörtern. Denn das, was für mich bitter war, war für sie nur eine Episode aus der tragischen Geschichte des Landes – nicht mehr. Ihres Landes, das schon nicht mehr meines war. Denn ich selbst war ein Bürger Deutschlands mit allen daraus erwachsenden Rechten und Pflichten. Ich kannte die deutsche Geschichte nicht besser, aber auch nicht schlechter als jeder beliebige Deutsche, der in Deutschland geboren war, hielt mich an alle nötigen staatlichen Rituale und hatte zwölf Jahre lang ehrlich in dem deutschen Pendant zu meinem sowjetischen Forschungsinstitut gearbeitet, nachdem ich ganz zu Anfang nach meiner Übersiedlung weniger als ein halbes Jahr arbeitslos gewesen war.

„Ich studiere am Institut für internationale Beziehungen“, sagte sie. „Wir werden streng nach Wohnorten aufgeteilt: die Moskauer – nach Moskau, die Kasachen nach Astana.“

Zu meiner Zeit kam man nur ans Institut für internationale Beziehungen, wenn man vom Gebietskomitee der Partei und vom KGB delegiert wurde, und zwar von beiden zusammen. Ein einfacher Junge aus einem kasachischen Aul konnte nicht einmal davon träumen, sich auch nur den Mauern dieser höchst elitären Hochschule zu nähern. Da hatten sich die Zeiten wohl wirklich geändert. Oder...

„Sind deine Eltern irgendwelche hohen Tiere?“, fragte ich. „Oder sind sie sehr reich?“

„Nein“, antwortete sie. „Wadim hat mir geholfen.“

„Wadim? Ich kann mich nicht entsinnen, dass er besonders viel Glück dabei gehabt hätte, Beziehungen zu nutzen.“

Sie lächelte mich wieder an, und es war das Lächeln einer sehr klugen und sehr gütigen Frau.

„Wadim ist in Ordnung“, sagte sie dabei. „Sie sollten nicht so über ihn reden!“

Eigenartig, aber dieser Einschätzung meines nichtsnutzigen Sohnes konnte ich nur voll und ganz zustimmen. Selbst wenn wir uns gestritten hatten und ich wütend auf ihn war, wusste ich doch immer, dass Wadim ein anständiger Kerl war, einer, mit dem man, wie es so schön heißt, Pferde stehlen konnte. Nur hätte dieses Pferdestehlen leise vonstatten gehen müssen, so, dass weder er noch ich etwas dabei gesagt hätten. Denn sobald wir uns trafen und anfingen zu reden, waren wir sofort gereizt und begannen, uns zu streiten. Alles, was mir recht war, gefiel ihm nicht, und umgekehrt: Alles, wonach ihm der Sinn stand, erschien mir ... ich wusste selbst nicht, wie es mir erschien, doch ich wusste immer, dass das, was er sagte, das ganze Gegenteil dessen war, was ich dachte und meinte. Vielleicht war ich gerade deshalb in meinem tiefsten Inneren froh, dass Wadim mich nicht vom Flughafen abgeholt hatte; ich war ihm dankbar, dass er mir Gelegenheit gegeben hatte, das Land, das ich verlassen hatte, allein zu sehen, ohne seine Kommentare anhören zu müssen. Und wenn er jetzt käme und anfinge darüber zu reden, wie gut es ihm hier ginge, würde ich wissen, was ich ihm zu antworten hätte. Dafür hatte ich genügend Argumente.

„Ich liebe Wadim auch“, gestand ich. „Und ich habe große Sehnsucht nach ihm.“

„Wadim hat auch Sehnsucht nach Ihnen“, antwortete sie fast im selben Moment. „er liebt Sie sehr, und es hat ihm sehr Leid getan, dass Sie sich in Deutschland nicht getroffen haben.“

„Er war in Deutschland?“, wunderte ich mich. „Wann denn?“

„Im vergangenen Herbst. Da war eine internationale Konferenz aus Mitteln irgend so eines internationalen Fonds, und da war er eingeladen.“

Wadim war Physiker. Er hatte die Moskauer Hochschule für physikalische Technik gerade noch kurz vor diesem ganzen Chaos abgeschlossen, das nach Breschnews Tod in der Sowjetunion ausgebrochen war. Dann hat er in Serpuchow am Synchrophasotron gearbeitet und sich dann, ohne seine Dissertation verteidigt zu haben, dem Kleinunternehmertum zugewandt, das heißt, er wurde Mitglied einer Kooperative, ist dann in ein russisch-amerikanisches Joint venture gegangen und dann... nein, ich weiß schon nicht mehr, wohin. Ich weiß nur, dass er mal viel Geld hatte und dann wieder nicht eine Kopeke. Beim letzten Mal (so vor drei Jahren) war er an der Erfindung irgendeines Weltwunders beteiligt, von dem die Weltöffentlichkeit und ich erst nach der Fertigstellung des Projekts erfahren würden. Ich hatte damals den Verdacht, dass die Legende von dem Projekt wieder einmal nur eine von Wadims Metaphern war und er sich in einem tiefen wirtschaftlichen Tal befand, doch die erwartete Bitte um finanzielle Unterstützung war ausgeblieben, und ich hatte nicht darauf bestanden, dass er sich mir offenbarte. Und nun das – die Teilnahme an einem internationalen Symposium in Deutschland aus den Mitteln irgendeines Fonds. Darüber würde ich ihn genauer ausfragen müssen. Und dass er nicht bei mir vorbeigekommen war und nicht angerufen hatte – das hatte sein Stolz nicht zugelassen. Hätte ich einen reichen Vater im Ausland gehabt, hätte ich ihm meine Gesellschaft auch nicht aufgedrängt.

Und für russische Verhältnisse war ich reich. Meine monatliche Rente war höher als das Jahreseinkommen eines Professors in Russland. Außerdem hatte ich Ersparnisse auf einem Konto bei der Deutschen Bank, in zehn Jahren hatte ich etwas auf die hohe Kante legen können.

Es war eigenartig, wie stark die Menschen in Russland an ihren Kindern hingen und wie schnell sich die Leute in Deutschland von denen trennten, die sie in die Welt gesetzt haben, kaum dass die Kinder selbstständig geworden waren. In Russland  brachte eine alte Mutter ihrem erwachsenen und mitunter faulen Sprössling das letzte Stückchen Brot. In Deutschland hingegen war alles streng reglementiert: Du bist volljährig, also nimm dein Schicksal selbst in die Hand! Wenn du Hilfe brauchst, bitte darum, aber du wirst nur soviel bekommen, dass die Interessen der Eltern nicht darunter leiden. Wenn du mehr brauchst, zieh vor Gericht, fordere eine Teilung des Vermögens oder der Pension von deinen reicheren Vorfahren. Aber wehe in Russland versuchte jemand, seinen Vater zu verklagen – die Nachbarn würden höhnen, Bekannte würden auf der Straße wegsehen!  Man würde leben wie ein Aussätziger. Denn „Ich habe dich gezeugt, ich werde dich auch töten!" – das gab es nur bei Gogol. Wenn man in Russland jemanden gezeugt hatte, musste man sein Kreuz auch tragen.

Aber ich war, Gott sei Dank, Deutscher und lebte in Deutschland. Über mich konnte man nur nach deutschen Gesetzen richten, und die waren voll und ganz auf meiner Seite. Wenn Wadim also irgendeine andere Hilfe brauchte als die, die ich ihm anbieten wollte und konnte, sollte er sich doch an ein Gericht in Deutschland wenden.

Mein Gesichtsausdruck hatte sich bei diesen Gedanken stark verändert, wahrscheinlich war Aischa davon unruhig geworden.

„Sind Sie gekränkt?“, fragte sie.

„Was denken Sie denn?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage. „Er ist schließlich mein Sohn.“

„Und Sie sind sein Vater“, stellte sie fest. „Er hat zehn Jahre auf Sie gewartet.“

In diesem Moment hörte man, wie im Korridor eine Tür geöffnet wurde (mein Gott, wie hellhörig hier doch alles war!). Aischa kreischte erfreut auf und sprang vom Tisch auf. Sie lief in den Korridor, ich aber blieb auf meinem Platz sitzen.

Für einen Mann meines Alters, der noch dazu nicht einmal vom Flughafen abgeholt worden war, schickte es sich nicht, in den engen Korridor zu gehen, um dort seinen taktlosen Sohn zu begrüßen.

„Ist er da?“, hörte ich die vertraute Stimme. „Na, Gott sei Dank!“

Fast im selben Moment erschien auch Wadim selbst in der Tür. Er war immer noch so groß, mit demselben Lächeln, er hatte sich überhaupt nicht verändert. Er war nur reifer geworden. Fünfunddreißig Jahre – das war schließlich nicht dasselbe wie dreiundzwanzig.

Ich erhob mich langsam am Tisch. Wadim kam mir entgegen. Er sagte etwas, doch ich hörte es nicht – meine Augen hatte sich mit Tränen gefüllt, und meine Ohren begannen zu summen. Ich ließ mich auf das Sofa fallen.

Er eilte zu mir, stieß dabei noch den Stuhl um, der links gestanden hatte, und drückte mich an seine Brust.

Mir wurde warm, und ich fühlte mich geborgen. So wie als Kind. Als mein Vater mich mit zum Angeln genommen hatte und ich nach dem abendlichen Fischzug neben ihm am Lagerfeuer auf seiner ausgebreiteten Strickjacke eingeschlafen war. Nur dass jetzt keine Insekten zirpten, kein Käuzchen schrie und neben uns kein Wasser plätscherte...

„Papa!“, hörte ich die zitternde Stimme meines Sohnes.

Von ihrem Klang kam ich zu mir und begriff sofort, dass ich genau in dem Moment Schwäche gezeigt hatte, als ich es am wenigsten hätte tun dürfen.

„Na, ist ja gut“, sagte ich mit strenger Stimme. „Ist gut, sag ich.“

Doch ich hatte einen Kloß im Hals und musste husten.

Mein Sohn trat vorsichtig zurück, hob den Stuhl auf und setzte sich darauf. Er begann, mich zu mustern. Seine Augen sahen mich so liebevoll an, so zärtlich, wie ich sie, seit er zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen war, nicht mehr gesehen hatte, als unsere ganzen Streitereien mit und ohne Grund begonnen hatten.

Beide Frauen traten herzu und stellten sich hinter ihn. Ich wollte auch ihnen in die Augen sehen, doch ich war nicht imstande, meinen Blick von meinem Sohn zu wenden, denn ich fühlte wieder Tränen in mir aufsteigen.

„Dummerchen“, sagte ich mit heiserer Stimme. „Hast nicht einmal angerufen.“

„Es war meine Schuld“, antwortete er. „Verzeih.“

Ich nickte zustimmend – und erst dann konnte ich auch die Frauen ansehen.

Amina hatte sich verändert. Sie war fülliger und für ihr Alter etwas zu korpulent geworden. Doch ihr Gesicht, das früher trocken und lebendig gewesen war, war nun gepflegt, wie bei den Heldinnen der Gesellschaftskolumnen im „Stern“. Ein aristokratisches Gesicht. Zu Zeiten meines Vaters, im Bürgerkrieg, hätte man für so ein Gesicht erschossen werden können. Die jugendliche Aischa verblasste neben ihr, dafür sah sie nun aber noch jünger aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ihren Bademantel ausgezogen und nun ein lila Kleid mit weißem Kragen an hatte. Und da erinnerte ich mich, dass sie mir den Tee auch nicht im Bademantel, sondern in diesem Kleid eingeschenkt hatte. Und ich hatte es aus irgendeinem Grunde nicht bemerkt. Ich werde wohl langsam alt...

„Guten Tag, Amina“, sagte ich. Und auf einmal brach es gegen meinen Willen aus meinem tiefsten Inneren heraus: „Verzeih.“

Aus Aminas Augen rannen zwei Tränen, doch ihre Lippen umspielte ein Lächeln. Das sah so rührend aus, das auch ich schniefte und versuchte, mich schleunigst abzuwenden.

„Na also“, meinte Wadim nun, während er sich von seinem Stuhl erhob. „Das ist ja wie eine Szene aus einer lateinamerikanischen Seifenoper.“ Er umfasste beide Frauen an den Schultern und schob sie in Richtung Küche. „Kommt schon, Frauen, bereitet das Essen vor, und Vater und ich werden hier ein bisschen reden.“ Und zu mir gewandt, sagte er: „Gehen wir auf den Balkon.“

Es stimmte, dass die Wohnung einen Balkon hatte. Das hatte ich schon ganz vergessen. In meiner deutschen Wohnung gab es keinen Balkon, denn ich hatte extra so eine Wohnung ausgesucht, um nicht für derartige Räume Miete zahlen zu müssen: Ich hatte dort einen kleinen Korridor ohne Wandschränke, eine winzige Toilette mit Dusche und eine kleine Küche. Im Vergleich zu anderen Wohnungen mit derselben Gesamtfläche sparte ich an die dreihundert Mark im Monat.

Nein, ich war nicht geizig und auch kein Knauser. Doch so viel Geld auszugeben, wie in Deutschland für Wohnungen ausgegeben wird, erschien mir einfach verheerend. In all den Jahren, die ich in der Sowjetunion gelebt habe, hätte ich niemals daran gedacht, dass die Ausgaben für ein Dach über dem Kopf wie bei vielen meiner Kollegen bis zur Hälfte des Einkommens ausmachen könnten. Ich hatte mir die Wohnung danach ausgesucht, dass die Miete dafür zwölf Prozent meines Gehalts nicht überstieg. Im Laufe der Zeit verringerte sich dieser Anteil sogar auf neun Prozent, denn als ich in Rente ging, hatte mein Gehalt eine solche Höhe erreicht, dass mich viele in unserem Büro beneideten.

Der Blick vom Balkon war derselbe wie aus dem Fenster: ein Innenhof zwischen grauen Elfgeschossern mit einem Durchgang zwischen der Mitte und unserem Haus, zwei Reihen kümmerlicher Bäume zwischen drei Asphaltstreifen und zwei Spielplätze mit windschiefen Rutschbahnen aus vor langer Zeit gestrichenen Rohren und einem schmutzigen Sandkasten unter einem schiefen Dach. Kein Vergleich zu den Spielplätzen in Deutschland, wo die Phantasie der Architekten und Künstler nicht durch Kontrollorgane gebremst wurde!

„In Deutschland“, war das erste, was ich sagte, als ich mit meinem Sohn allein war, „würde es sogar Erwachsenen Spaß machen, sich auf einem Spielplatz auszuruhen und ein wenig herumzutollen, und bei euch möchte nicht einmal ein Hund sein Bein heben.“

„Ja“, pflichtete er mir bei. „Die Spielplätze bei uns sind schlecht.“ Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Balkonbrüstung und fuhr fort. „Bei uns ist vieles schlecht. In fünfzehn Jahren haben wir uns sogar daran gewöhnt, wie die Tiere zu leben. Früher war an der Bushaltestelle morgens von halb sieben bis um neun ein einziges Kommen und Gehen, weil die Leute es eilig hatten, zur Arbeit zu kommen. Heute gehen sie erst um zehn aus dem Haus. Und was für Gesichter sie haben: grau und düster. Früher sahen nur Säufer so aus. Was soll man da sagen, es geht uns übel.“

„Willst du nach Deutschland?“ In diesem Moment wagte ich, die Frage zu stellen.

„Nein.“

Seine Antwort klang einfach, als ob es um eine ganz alltägliche Entscheidung ging, etwa wie wenn ich ihm vorgeschlagen hätte, vom Balkon zu spucken. In seiner Stimme hatten keinerlei Emotionen mitgeklungen, er hatte einfach „Nein“ gesagt – und fertig.

Dieses Wort hatte mir einen schmerzhaften Stich versetzt. Das hieß, alles, worüber ich auf der Reise hierher nachgedacht hatte, worüber ich nachgedacht hatte, während ich mich mit Aischa unterhalten hatte, worüber ich nachgedacht hatte, als ich meinen Sohn und meine Schwiegertochter wiedersah, war nur Unsinn und dummes Zeug gewesen. Und hierher gekommen war ich nicht, um meinem Sohn und seiner Frau (das heißt, inzwischen schon seinen Frauen) bei der Ausreise zu helfen, sondern zu irgendeinem anderen, mir unbekannten Zweck. Und nun würde mir Wadim sagen, was er denn wirklich von mir wollte, und ich würde nicht gleich antworten können, denn ich war auf keine andere Antwort vorbereitet als auf die auf die Frage: Wie kann ich meinem Sohn bei der Ausreise behilflich sein?

„Was willst du dann?“, fragte ich und bemühte mich, mir meine Erregung nicht anmerken zu lassen.

„Nichts. Du bist gekommen, und das freut mich.“ Er schwieg einen Moment, und nachdem er unverwandt zu dem grauen Betonklotz mit den in der Sonne glitzernden Fenstern hinübergesehen hatte, fuhr er fort:

„Weißt du, der Mensch braucht zum Glücklichsein gar nicht viel. Hast du zum Bespiel ein Auto?“

„Ja, einen Mercedes.“

„Bist du glücklich damit?“

„Was soll das denn?“ Ich wurde verlegen und ärgerte mich über mich selbst, dass ich ihm wieder die Möglichkeit gegeben hatte, das Gespräch in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. „Was hat denn das mit Glück zu tun? Das ist ein Auto. Ich fahre damit.“

„Nein, Vater. Dein Hintern fährt damit. Das Auto fährt mit dir. Rechne doch selbst mal nach, wie viel Zeit und Kraft du darauf verwendest, nicht nur am Steuer zu sitzen, sondern auch ans Tanken zu denken, den Zustand der Reifen im Auge zu behalten, und dann, wenn du damit fährst, nicht die Geschwindigkeit zu überschreiten, damit du nicht geblitzt wirst und keine Strafe zahlen musst. Und dazu kommt noch die Versicherung und die regelmäßige Durchsicht. Du gehörst mehr dem Auto als das Auto dir.“

„Schon gut.“ Ich wollte mich auf keinen Streit einlassen. „Ich brauche das Auto, daher die Kosten.“

„Es geht auf Kosten der Seele, Vater“, bemerkte er. „Und so verlierst du ein Quäntchen Glück.“

„Und du hast kein Auto und bist glücklich?“ Diese Stichelei konnte ich mir nicht verkneifen.

„Glücklich?“, fragte er zurück. „Nicht immer natürlich. Immer glücklich zu sein ist ein Privileg der Idioten. Und ich denke, wenn ein Autofahrer in Deutschland ohne eigene Schuld in einen Unfall verwickelt wird und das Geld von der Versicherung bekommt, fühlt er sich glücklicher als ich. Doch den Preis für sein Glück bestimmt die Versicherungssumme – und nur sie. Den Preis für mein Glück aber..., nein, den kann man nicht bestimmen.“

„Wieso nicht“, widersprach ich trotz allem, „die Größe deines Glücks ist proportional zur Anzahl deiner Frauen.“

Wadim musste lachen und sah mich liebevoll an.

„Aus irgendeinem Grund habe ich mir gedacht, dass du genau das sagen würdest“, sagte er. „Irgendwie schockiert es die Leute, dass wir zu dritt zusammenleben. Dabei üben übrigens weder ich noch sie irgendeinen Druck aus. Parteikomitees und Stadtkomitees gibt es nicht mehr, in die Kirche gehen wir nicht, und der Hausverwaltung ist es völlig egal, wer mit wem schläft. Wir mögen einander einfach, und uns geht es gut zu dritt. Und wer sagt denn, dass die, die uns verurteilen, im Recht sind und nicht wir?“

„Ja, natürlich“, stimmte ich zu. „Das ist eure persönliche Angelegenheit. In Deutschland gibt es auch Ménages à trois.“

„Siehst du, du hast schon eine Definition gefunden und belegt: wie in Deutschland. Aber das hier ist Russland. Hier ist alles anders. Wir haben keinen Ehevertrag und haben uns nicht ewige Treue geschworen. Wir freuen uns nur jedes Mal, wenn wir uns sehen – zu zweit, zu dritt, und haben Sehnsucht, wenn wir allein sind. Und sind wir zu zweit, haben wir Sehnsucht nach dem dritten. Das ist alles emotional, Vater. Das ist mit Worten nicht zu erklären.“

„Aber natürlich.“ Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. „Die rätselhafte russische Seele, aber in Wirklichkeit gibt man sich sonst schlummernden animalischen Instinkten hin.“

„Ich will nicht streiten, Papa.“ Wadim lächelte. „Sonst zanken wir uns wieder.“

Eigenartig, aber jetzt erinnerte ich mich daran, dass in all unseren vorangegangenen Gesprächen er diese Worte gesagt hatte und nicht ich, und dass auch immer er es gewesen war, der unsere Streitereien beendet hatte. Er hatte sich immer entschuldigt und mir niemals die Gelegenheit gegeben, das zu tun. Selbst wenn er meinte, dass er völlig im Recht war.

„Danke, mein Sohn“, sagte ich und biss die Zähne zusammen, damit mir nicht wieder die Tränen kamen.

Aus dem Wohnzimmer drang Aischas Stimme:

„Männer! Papa! Wadim! Kommt zu Tisch!“

Mein Sohn lächelte:

„Siehst du, sie sagt ‚Papa’.“

Und wir gingen ins Wohnzimmer.

Bei Tisch stellte sich heraus, dass Wadim gar nicht vorgehabt hatte, mich vom Flughafen abzuholen. Er hatte gemeint, es wäre einfacher für mich, mit dem Taxi zu der bekannten Adresse zu fahren, als im überfüllten Auto in Gegenwart einer Frau zu schwitzen, die ich kaum kannte, und einer, die ich gar nicht kannte. Er hatte gehofft, früher von der Arbeit nach Hause zu kommen, doch sein Chef hatte ihn und Amina aufgehalten, und so hatten sie sich verspätet.

„Dabei hat es doch auch so gut geklappt“, stellte er nun fest. „Solange wir nicht da waren, hast du Aischa kennen gelernt. Solche Dinge gehen immer am besten unter vier Augen.“

Eine derartige Offenherzigkeit hätte meine Bekannten in Deutschland schockiert. In der Umgebung, in der ich die letzten zwölf Jahre verbracht hatte, wurde eine solche Offenheit nicht nur nicht geschätzt, sie galt sogar als schlechter Ton. Dort hatte man keine Hemmungen, als vulgär zu gelten und so zu wirken, doch Offenherzigkeit hielt man für ein Merkmal von Idiotie. Die Deutschen in Deutschland hatten nicht einmal ein echtes Lächeln. Sie verbargen ihre wahren Gedanken und Gefühle so geschickt hinter diesen wie angeklebt wirkenden Lächeln, dass man Monate oder gar Jahre brauchte, um einen Menschen, der gleich nebenan wohnte oder arbeitete, richtig einzuschätzen. Und eine Gemeinheit wie etwa Denunziation wurde in Deutschland als Heldentat geschätzt.

Doch mein Sohn unterbrach meinen Gedankengang.

„Hat sie dir erzählt, dass sie die Urenkelin von genau dem Kudaibergen ist, der dir das Leben gerettet hat? Als ich es erfahren habe, bin ich fast umgefallen. Das muss man sich mal vorstellen – so ein Zufall, was?“

Und er erzählte, wie ein Jahr zuvor eine Studentin des Instituts für internationale Beziehungen zu ihnen in die Firma gekommen war und gebeten hatte, sie in Teilzeitarbeit zu beschäftigen, da das Stipendium im Institut häufig nicht pünktlich gezahlt wurde und die kasachische Botschaft, die verpflichtet gewesen wäre, ihre Studenten in Moskau zu unterstützen, gesagt hatte, es wäre kein Geld da. Und von irgendetwas musste das Mädchen doch leben, essen, trinken, sich kleiden. Außerdem habe sie noch eine Wohnung mieten wollen, da das Studentenwohnheim zu einem richtigen Bordell verkommen war und sie sich an dieser allgemeinen Sünde, die in den Räumen dieser immer noch geachteten prestigeträchtigen Institution vor sich ging, nicht beteiligen wollte. Nachdem sich der Chef davon überzeugt hatte, dass Aischa drei Fremdsprachen so gut wie niemand sonst in der Firma beherrschte, hatte er sie eingestellt und Wadim gebeten, sie einzuarbeiten. Im Laufe dieses Gesprächs hatte sich dann auch herausgestellt, dass Kudaibergen Amsejew aus dem Dorf Kenes im Gebiet Dschambul Aischas Urgroßvater war und ihr Betreuer der Sohn eben jenes deutschen Jungen, den Kudaibergen noch während des Krieges vor den Messern der Tschetschenen gerettet hatte.

„Daraufhin musste ich sie doch zu uns nach Hause einladen“, schloss Wadim. „Da hat sie dann Amina kennen gelernt, und seitdem leben wir unter einem Dach.“

Diese Geschichte bestach durch ihre Trivialität. Ich dachte bei mir, wenn Kudeke noch am Leben gewesen wäre, wäre er keineswegs für seine Urenkelin gekränkt gewesen, sondern hätte sich sogar gefreut und mich dazu beglückwünscht, dass ich nun mit dem Geschlecht der Tschapraschta verwandt war, das seiner Meinung nach das würdigste Geschlecht in der ganzen Großen Steppe war.

„Mein Großvater hat mir von Ihnen erzählt“, meldete sich nun Aischa. „Er hat gesagt, dass sein Vater niemals einem Menschen geholfen hätte, den er nicht respektiert hat.“

Seltsam, in Deutschland war von Respekt mir gegenüber nie die Rede gewesen. Dort war es üblich, die Deutschen, die aus der Sowjetunion gekommen waren, zu bedauern, sich um sie zu kümmern, ihnen finanziell zu helfen, sie zu verteidigen oder aber im Gegenteil in der Presse mit Dreck zu bewerfen, indem man behauptete, sie wären ein Teil der berüchtigten russischen Mafia. Der Leiter meines Labors hatte mich für meine hohe Professionalität geschätzt und war sehr traurig gewesen, als ich in Rente ging und er nun niemandem mehr die Arbeit übertragen konnte, die ich gemacht hatte. Aber Respekt... Nein, Respekt hatte ich in Deutschland nie zu spüren bekommen. Niemals und von niemandem.

„Mein Urgroßvater sagte immer, dass es ihnen, seit die Deutschen aus dem Dorf weggezogen sind, nachdem die Kommandantur geschlossen wurde, in Kenes nicht mehr so gut ging“, führte Aischa ihren Gedanken fort. „Mein Großvater war jünger als Sie, doch er erinnert sich an Sie. Wie Sie im Krieg den alten Mähdrescher repariert haben und dann damit gefahren sind.“

Ich erinnerte mich an den kleinen Kasachen, der die ganze Zeit um mich herumgelaufen war, während ich mit eben jenem Mähdrescher beschäftigt war und mit der Feile Bauteile löste, Nieten anbrachte, wo eigentlich hätte geschweißt werden müssen, obwohl es zu jener Zeit kein Elektroschweißgerät gab, und hier und da Eisenteile durch Holzteile ersetzte, obwohl auch Holz in dieser wüstennahen Gegend mehr als Mangelware war. Um Kurai zu holen, eine trockene Grassorte mit holzigen Stängeln, sind wir fünf oder sechs Kilometer von Kenes weggegangen und, wenn die Bündel, die wir davon gesammelt hatten, größer waren als wir selbst, trugen wir sie auf unseren Schultern nach Hause. Ich erinnerte mich, dass es auf jedem Hof riesige Schober dieses Grases gab und dass wir damit auch unsere Erdhütten und Ziegelhäuschen in den rauen Wintern mit ihren Schneegestöbern beheizten. In diesen kalten Monaten ging ich in die Schule. Und dieser kleine Junge – Aischas Großvater – war vier Klassen unter mir.

„Bolat“, erinnerte ich mich. „Er hieß Bolat.“

„Ja!“, freute sich Aischa. „Bolat. Sie erinnern sich an ihn?“

Ich erinnerte mich an den Jungen Bolat. Doch als ich in den sechziger Jahren und vor dreizehn Jahren nach Kenes gekommen war, hatte ich ihn dort nicht getroffen. Deshalb fragte ich:

„Wohnt er denn in Kenes?“

„Nein. Er ist gleich nach der Schule zum Studium nach Almaty gegangen und dort geblieben.“

Das Wort „Almaty“ klang mir unangenehm in den Ohren. Diesen Namen hatten meinem geliebten Alma-Ata einst die Teilnehmer des Gemetzels vom Dezember 1986 gegeben, das inzwischen, wie ich gehört hatte, als der erste Ausdruck der Freiheitsliebe des kasachischen Volkes anerkannt wurde. Als ich 1989 nach Kenes fuhr, waren mir unterwegs einige dieser freiheitsliebenden Schurken begegnet, die mich nur deshalb beleidigt und erniedrigt hatten, weil ich eine weiße Hautfarbe hatte und durch kasachisches Gebiet fuhr. Einmal, als mir im Zug Almaty-Schymkent zwei Halbstarke mit dem Abzeichen der Partei „Azat“[5] an der Brust, einem den Mond anheulenden Wolf, in die Augen sahen und dabei ausheckten, wie sie mir meinen Hut abnehmen und hinein urinieren wollten, sagte ich auf Kasachisch:

„Angeme kulagyma dschette...“

Ich sagte das ganz automatisch und machte mir nicht die Mühe, über eine russische Übersetzung nachzudenken, so, wie ich in dieser Gegend schon vierzig Jahre zuvor gesprochen hatte, wie alle verbannten Deutschen gesprochen hatten, wenn sie die Kasachen davon überzeugen wollten, dass sie ihre Sprache verstünden. Übersetzt hieß das etwa: „Dein Laut ist an mein Ohr gedrungen.“ Und nachdem ich mich besonnen hatte, fuhr ich fort:

„Ulky tuje kopyrden tajak dschede.“

Das hieß: „Ein großes Kamel hat sich auf der Brücke an einem Stock verschluckt.“ So hatten zu meiner Zeit die Alten mit jungen Flegeln gesprochen.

Mein Ausspruch begeisterte fast alle Fahrgäste im Waggon.

Die Azat-Mitglieder, die mich beleidigt hatten, bemühten sich von nun an um meine Gunst und stiegen am nächsten Bahnhof schnell aus, um einige Spieße Schaschlik zu kaufen und mich zu bewirten. Ich erinnerte mich, dass ich gerührt gewesen war und den Lausern verziehen hatte, ja ich hatte ihnen sogar etwas von den Mitbringseln geschenkt, die ich in Moskau gekauft hatte.

Doch dann, am Bahnhof von Schu (dem früheren Tschu), waren sie ausgestiegen, und ich hatte zufällig gehört, was sie meinem neuen Abteilnachbar gesagt hatten:

„Ak-kulak.“

Und das hieß „Weißohr“, das heißt, dass sich im Abteil ein Nichtkasache befand, ein Europäide, der aber Kasachisch verstand, so dass man in meiner Gegenwart vorsichtig sprechen müsste.

„Almaty“, wiederholte ich mit trauererfüllter Stimme. „Und Dschambul ist Taras geworden, Tschimkent Schymkent...“

Ich wollte das nicht weiter ausführen, doch ich dachte daran, dass die Timirjasew-Straße in Dschambul während der Perestroika als Zeichen, dass die historische Gerechtigkeit wieder hergestellt wurde, nicht etwa in Viehtriebstraße umbenannt wurde, wie sie ursprünglich geheißen hatte, sondern in Samarkander Straße, obwohl sie in eine völlig andere Richtung führte. Der Name eines der ersten Nobelpreisträger erschien den neuen Machthabern in der Stadt beleidigend, denn sie mochten keine „Weißohren“. Doch das Mädchen Aischa traf daran keine Schuld, es brachte also nichts, wenn ich ihr mit meinen Gedanken Geist und Seele schwer machte.

„Er hat zuerst als Ingenieur gearbeitet, dann haben sie ihn ins Kreiskomitee der Partei geholt. So stieg er immer weiter und weiter auf und wurde Chef eines Trusts“, erzählte Aischa. „Dann, als die Trusts geschlossen wurden, wurde er Vorsitzender einer Aktiengesellschaft. Und dort arbeitet er immer noch. Nur ist er inzwischen außerdem Maslichat[6]-Abgeordneter.“

„Da kannst du mal sehen, was wir jetzt für Verwandte haben!“ Wadim grinste mich an. „Und das ist schon eine neue Generation. Ihnen kann man weder die sowjetische Nomenklatur erklären, noch dass die Trusts nicht geschlossen wurden, sondern einem groß angelegten Diebstahl zum Opfer gefallen sind.“

„Mein Großvater ist kein Dieb“, sagte Aischa fest.

„Ich sage ja auch nicht, dass er ein Dieb ist“, lächelte Wadim. „Ich meine nur, dass die alten Vorstellungen heute in Russland und Kasachstan einfach nicht mehr existieren. Alle haben völlig vergessen, wie das heutige Kapital und die Kapitalisten entstanden sind und woher sie kamen. Die Menschen dienen ihnen einfach – und damit hat es sich. Jeder Exkurs in die unmittelbare Vergangenheit wird als Angriff auf die Ehre und die Würde der geachtetsten Säulen der Gesellschaft empfunden. Und was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir im Kampf gegen die Fäulnis und Verpestung der Sowjetgesellschaft all das ausgerottet haben, was an dieser Gesellschaft gesund war, und genau der Verpestung freien Lauf gelassen haben, die wir an der UdSSR so gehasst haben.“

Aischa wurde bleich und biss sich auf die Lippe.

„Aha!“, sagte ich nun. „Dann ist bei euch gar nicht alles so idyllisch, wie es auf den ersten Blick aussieht.“

Erst jetzt meldete sich Amina zu Wort.

„Wir reden selten über Politik, Papa“, sagte sie mit ihrer singenden, tiefen Stimme, von der den meisten Männern wahrscheinlich das Herz schwer geworden wäre. „Ich weiß nicht, warum Wadim das Gespräch darauf gebracht hat. Er hat Aischas Großvater kennen gelernt und ihn gleich gemocht.“

Sie sprach langsam und ein bisschen gewichtig, so, wie schöne Frauen häufig sprachen, weil sie gewöhnt waren, dass man sie auf jeden Fall bis zu Ende anhörte.

Wadim erklärte aufbrausend:

„Ich sage ja gar nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Auch Breschnew soll im Kreise seiner Familie lieb und nett gewesen sein. Selbst Hitler hat Katzen geliebt. Ich meine...“

„Willst du Aischa unbedingt kränken?“, unterbrach ihn Amina. „Oder willst du vor deinem Vater als Revolutionär dastehen? Sag es ruhig. Wenn es so ist, gehen wir hinaus und warten, bis ihr genug geredet habt. Danach kommen wir wieder und essen weiter.“

Ja, nun wurde mir klar, wer in dieser Familie wirklich das Sagen hatte. Der Mann dieser zwei Frauen schluckte nur, sagte: „Gut. Lasst uns das Thema wechseln.“ und machte sich über den Plow, das traditionelle Gericht aus Reis und Hammelfleisch, her.

Eine Zeitlang aßen wir schweigend. Mir ging nun schon der dritte Grund durch den Kopf, weshalb mich Wadim so nachdrücklich eingeladen haben könnte. Er stand zwischen diesen beiden Weibern, und sie wickelten ihn gemeinsam um den kleinen Finger. Orientalische Frauen konnten das. Deshalb hielten sich die Türken in Deutschland so an die islamischen Traditionen und versuchten, ihre Frauen im Zaum zu halten, und trotzdem gab es immer mal wieder eine, die ihren Mann klein kriegte. Ja, und unsere neu ernannten Moslimen, die eine sowjetische Erziehung genossen hatten und mit der Pionierorganisation und dem Jugendverband groß geworden waren, waren jenen Türkinnen noch um einiges voraus.

Dem Jungen musste geholfen werden...

„Nach Deutschland kommen jetzt viele Juden aus Russland“, sagte ich. „Sie sagen, es gäbe hier einen furchtbaren Nationalismus. Stimmt das etwa?“

„Wie?“, fragte Wadim, als wäre er gerade aufgewacht.

„Es heißt, ihr hättet hier einen ungezügelten Antisemitismus“, wiederholte ich.

„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab nichts davon gemerkt.“

„Aber es wird erzählt, dass es in Moskau fast schon Pogrome gibt, dass Synagogen angezündet werden.“

„Sie zünden sie selber an“, sagte Amina überzeugt. „Wer würde sie denn sonst beachten? Sie haben alle einen Beruf: Märtyrer.“

Bei diesen Worten begriff ich, dass das Thema, das ich angeschnitten hatte, für Russland wirklich brandaktuell war und dass die russischen Juden in einigen Dingen recht hatten. Obwohl man zugeben musste, dass das Wort „Jude“ in Deutschland ganz anders behandelt wurde als in Russland. Dort bedeutete es die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, nicht mehr.

Über die Nationalitätenfrage in Russland zu diskutieren war eine der aussichtslosesten Beschäftigungen, die man sich denken konnte, deshalb widmete ich mich lieber wieder dem Plow, der wirklich sehr gut war. Erstens war das Hammelfleisch darin frisch geschlachtet und kein australisches, das schon vor zwei Jahren geschlachtet und dann in Gefriertruhen überlagert worden war, wie das immer in Deutschland der Fall war, zweitens war der Reis gerade richtig geschält, das heißt, es gab noch kleine Reste von Schalen, die dem ganzen Gericht einen besonderen Geschmack gaben, und drittens war der Plow mit Berberitze und einem speziellen Gewürzkraut gemacht, dessen Namen ich vergessen hatte, doch ich konnte mich erinnern, dass es zu meiner Kindheit in den Gärten einiger Kasachen gewachsen war und dass sie es als das beste Gewürz für viele Hammelfleischgerichte geschätzt hatten.

Über all das hätte ich gern mit meinen Gastgebern geredet und sie nach dem Namen dieses Krautes gefragt, doch Wadim hatte, beunruhigt über die gespannte Atmosphäre, die nach unserem Wortwechsel mit Amina entstanden war, beschlossen, die Wogen auf typisch russische Weise wieder zu glätten. Er goss sich und mir Wodka ein, seinen Frauen Wein und brachte einen wenig originellen, dafür aber sehr passenden Trinkspruch aus:

„Trinken wir auf die Ankunft meines Vaters!“

Mehr Worte waren nicht nötig, deshalb leerten wir unsere Gläser bis zur Neige und bekamen sie, ohne dass wir geschafft hätten, sie abzustellen, schon wieder nachgefüllt.

Nun wollte Wadim einen Toast auf seine Mutter ausbringen und fand recht viele bewegende Worte, die auf mich einen so starken Eindruck machten, dass ich das nächste Glas auch vollständig leerte.

An den weiteren Verlauf des Gesprächs konnte ich mich nur schemenhaft erinnern.

Durch die Jahre in Deutschland war ich solch intensive Gelage nicht mehr gewöhnt. In einer Gesellschaft Wodka zu trinken, wo Sparsamkeit ein nationaler Charakterzug war, wo in jeder Werbung und allen Zeitungen ständig von „Sparen“ die Rede war, wo man zu Hause Ziegelsteine in die Spülkästen legte, um den Wasserverbrauch zu senken, in so einem Umfeld  konnten es sich nur die erlauben, Wodka zu trinken, die auf der untersten Stufe der Gesellschaft standen, aber auf keinen Fall ernsthafte Wissenschaftler, als welcher ich bei den richtigen Deutschen gelten wollte. Ich trank, ebenso wie sie, Bier aus riesig wirkenden Gläsern, die jedoch nur ein geringes Fassungsvermögen hatten, das heißt, eigentlich trank ich nicht, sondern nippte nur, damit 0,3 Liter für eine halbe oder eine ganze Stunde reichten. Am Wochenende trank ich ein Gläschen Kognak; Wodka aber trank ich nur zu meinem Geburtstag, wenn ich Gäste hatte oder im Restaurant. Doch tat ich das immer nach dem Essen, ausgeruht und entspannt.

Die Reise, die nervliche Anspannung und der große zeitliche Abstand zwischen dem Frühstück im Flugzeug und diesem Festmahl hatten ein übriges getan – ich war betrunken.

Ich erinnerte mich nur, dass ich zuerst Gorbatschow dafür gedankt hatte, dass er mir die Möglichkeit geschenkt hatte, nach Deutschland auszureisen, in dieses satte und gepflegte Land, wo die Menschen jahrelang lebten, ohne zu arbeiten, wo die Wörter „Urlaub“ und „Wochenende“ die wichtigsten Wörter überhaupt waren. Dort warf man tolle, fast neue Möbel und Fernseher auf den Müll und bezahlte auch noch dafür. Dort waren die Autobahnen eben wie Glas, und die Autos waren wirklich „kein Luxus, sondern ein Fortbewegungsmittel“. Außerdem wurde dort nicht das Licht abgeschaltet, Polizisten und Beamte waren dort zu normalen Bürgern so höflich wie zu Vorgesetzen, und ... Jugendliche boten in öffentlichen Verkehrsmitteln Älteren nicht einmal ihren Platz an.

An dieser Stelle änderte sich mein Tonfall, und ich begann, mich bei meinem Sohn darüber zu beklagen, wie die Russen in Europa gehasst würden, dass man mich in Russland als Faschisten beschimpft hatte und mich nun in Deutschland einen Russen schimpfte und dass man mich ebenso wie die richtigen Russen verachtete. Ich erzählte, wie sehr mir die Saufgelage mit den Russlanddeutschen, die in Deutschland „Aussiedler“ genannt wurden, gegen den Strich gingen, weil die Themen dabei immer wieder dieselben waren: Dass die Deutschen aus Russland in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren und nun diesem Land dafür dankbar sein sollten, dass es uns vom russischen Joch befreit hatte, dass wir Deutsch lernen und alles vergessen sollten, was wir von der russischen Kultur behalten hatten, dass wir die Preise von Sonderangeboten kennen und darauf achten sollten, was es in Winterschlussverkäufen und Sommerschlussverkäufen auf den Wühltischen gab und dass wir außerdem ausschließlich CDU wählen sollten.

Ich sang die Anfänge aller mir bekannten russischen und deutschen Lieder, deren Mittelteil und Schluss ich nicht kannte, machte Deutschland eine Liebeserklärung und erklärte gleichzeitig, dass, wenn in der UdSSR alles beim alten geblieben wäre, weder ich noch Millionen anderer meinesgleichen Russland den Rücken gekehrt hätten und zu Menschen ohne Heimat und ohne Wurzeln geworden wären.

Ich schüttete die Kreditkarten von fünf Banken auf den Tisch und erklärte, dass das Brot des Emigranten bitter sei und das Schicksal eines Emigranten, sogar eines satten, hundertmal tragischer als das Schicksal eines Hungrigen, der in seiner Heimat lebte. Denn selbst mir, der ich schon fast ein halbes Jahrhundert in der Stadt gelebt hatte und dem sowohl die schönsten Sonnenuntergänge in der kasachischen Steppe als auch die wunderbaren Sonnenaufgänge über russischen Feldern völlig egal waren, erschien das Leben in Deutschland, das von Wegen und Straßen gleichsam in Planquadrate zerteilt war, armselig, und ich war seiner überdrüssig.

Ich hatte noch vieles andere dahergeredet, bis ich vom Stuhl gekippt und so, wie ich war, auf dem Fußboden eingeschlafen war.

Im Traum erschien mir mein deutscher Chef im Smoking und an schmutzigen Steinstufen abgewetzten Leinenhosen. In der Hand hielt er eine knorrige Spierstrauchrute, mit der er ein Kamel mit zwei Höckern und kahlen Stellen im Fell antrieb. Sie mussten sich beeilen, denn es herrschte eine drückende Hitze, in der ein schwerer Beifußgeruch lag, über dem westlichen Horizont aber zog die Dunkelheit herauf, und die schwarzen Wolken verhießen Sturm und Unwetter...

Gegen Morgen wachte ich auf. Ich lag auf einem mit weißen Laken bezogenen Sofa und war mit einem Bettbezug zugedeckt, in dem sich eine Kamelhaardecke befand. Die Uhr auf dem Tisch zeigte sechs Uhr – nach deutscher Zeit war es also vier. Kopfschmerzen hatte ich nicht, doch ich musste auf die Toilette und wollte mir unbedingt die Zähne putzen. Das tat ich dann auch.

Als ich an der Tür zu dem Zimmer vorbeiging, das einmal das Schlafzimmer von meiner Frau und mir gewesen war, bemühte ich mich, mich abzuwenden, um nicht aus Versehen das zu sehen, was ich dort vermuten konnte.

Und erst jetzt fiel mir ein, wie ich in betrunkenem Zustand von meinem Sohn entschieden eine Erklärung verlangt hatte, wie er mit seinen Frauen schliefe: mit beiden gleichzeitig oder mit jeder einzeln. Die Reaktion der Gastgeberinnen hatte ich vergessen, doch bei dem Gedanken an meine Frage schämte ich mich. Mir wurde klar, dass ich meinen Schwiegertöchtern nicht in die Augen sehen konnte.

Daher wusch ich mich flüchtig, putzte mir mit der Zahnbürste, die ich in meinem Koffer fand, die Zähne und bemühte mich, mich möglichst leise anzuziehen, zog meine Schuhe an und verließ die Wohnung.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich war allein...

 

Sie machten mich in Scheremetjewo-2 in der Schlange zum Check-in ausfindig. Ich überlegte gerade, dass Emigration wie Sterben wäre, dass ich umsonst nach Moskau gekommen wäre und dass es für Wadim einfacher gewesen wäre zu glauben, ich wäre vor zwölf Jahren gestorben als seinen Vater als betrunkenen Grobian zu erleben, dass mein Verhalten für einen deutschen Deutschen verzeihlich gewesen wäre, der seit Hitlers Zeiten daran gewöhnt war, dass die Frauen den Männern ihre Körper schenkten, als Auszeichnung für den treuen Dienst am Vaterland, nicht aber für einen Deutschen aus Russland, der aus einer Familie stammte, wo selbst in finstersten atheistischen Zeiten Bibelsprüche in Kreuzstich gestickt an der Wand gehangen hatten, die die Eintracht in der Familie bewahren sollten.

Wadim trat auf mich zu und nahm mir den Koffer aus der Hand.

„Mach keinen Quatsch“, sagte er. „Du hast uns allen einen Schreck eingejagt.“

Beide Frauen neben ihm sahen mich mit Trauer und Freude in den Augen an.

„Du hast doch ein Jahresvisum“, fuhr mein Sohn fort.

Das stimmte zwar, doch konnte ich mich nicht entsinnen, dass ich meinem Sohn davon erzählt hätte.

Plötzlich fiel Amina vor mir auf die Knie und sagte:

„Papa, vergib uns.“

Daraufhin zupfte sich Aischa ein bisschen die Hose über die Knien zurecht, um dann ebenfalls auf die Knie zu fallen und dieselben Worte zu wiederholen.

Es war, als ob der internationale Flughafen beim Anblick dieses Bildes erstarrte. Selbst die Flughafensprecherin, die uns wohl kaum gesehen haben konnte, verstummte.

Ich stürzte auf meine Schwiegertöchter zu und half ihnen aufzustehen.

„Gehen wir, gehen wir weg von hier“, beschwor ich sie im Laufen und versuchte, weder sie noch irgendjemanden, der uns in diesem Moment sah, anzuschauen. „Wo gibt es hier ein Taxi?“

Damit fuhren wir los.

Als wir bereits im Auto saßen, dachte ich daran, dass ich mein Ticket nach Hannover nicht zurückgegeben hatte und daran, dass das typisch russisch war. Kein einziger Deutscher hätte einfach so dreihundert Mark zum Fenster hinausgeworfen.  Ich hatte es getan. Und es tat mir nicht einmal Leid. Komisch...

Noch komischer war, dass ich jetzt gar nicht nach Deutschland zurück wollte.

In Russland, in diesem Land, wo alles so absurd und rational nicht zu begreifen war, wo die Hauseingänge schmutzig waren und die Sprechanlagen kaputt, wo die Kinderspielplätze nichts taugten, wo es keine Ordnung gab und vielleicht niemals geben würde, lebte mein Sohn, der mir mehr bedeutete als alles andere auf der Welt. Mit sechzig Jahren hatte ich endlich eine richtige Heimat gefunden und sogar zwei Schwiegertöchter, die mir richtige Enkelkinder gebären würden, mit denen ich über die echte russische Erde gehen und eine Luft atmen würde, in der sich die Bitterkeit des kasachischen Beifußes mit dem herben Geruch russischer Kamille mischte.

„Ich will in die Tretjakow-Galerie“, sagte ich. „Und in die Bolschaja Ordynka.“

 

 

     Aus dem Russischen von Carola Jürchott                                                                                                                                                                             



[1] Die Kulissen zu Gorkis „Nachtasyl“ stammten noch von Stanislawskij selbst aus dem Jahre 1898. Es handelte sich dabei um Elendsviertel, die mit sehr einfachen Mitteln dargestellt wurden. Die Kulissen zu „Das tolle Geld“ hingegen waren mehr als pompös und wirkten regelrecht überladen in ihrem Reichtum.

[2] Pflanze in der Halbwüste

[3] kasachisches Gebäck: kleine, in Öl gebackene Teigbällchen

[4] mittelasiatische ehrerbietige Anrede für eine ältere Frau

[5] faschistische Partei in Kasachstan

[6] Gebietsparlament in Kasachstan

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