Valerij Kuklin

 

Íà ñòð. «Ïüåñû»

 

 

Der verlorene Ring

 

Ein Märchenstück

 

 

 

 

Handelnde Personen:

 

1.      Prinzessin

2.      Diener

3.      Freundin

4.      Herold

Geheime Diener

 

 

 

 

 

Die Zeit der Handlung und die nationale Einordnung der handelnden Personen sind, ebenso wie die Kostüme, nicht von Bedeutung.

Das Alter der zu besetzenden Schauspieler ist dem Regisseur überlassen. Die Prinzessin kann ebenso gut auch von einer reiferen Frau gespielt werden. Die Zahl der geheimen Diener kann zwischen zwei und mehreren Dutzend variieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Valerij Kuklin 1997


Erster Akt

 

In den Gemächern des Zarenpalastes

 

Prinzessin (aus der Richtung des Kellereingangs kommend): He! Wo seid ihr denn alle? Wieso ist niemand da? Bin ich etwa allein?

 

Auftritt des verschlafenen Dieners

 

Diener: Guten Tag, Prinzessin. Warum seid Ihr so früh schon auf den Beinen?

Prinzessin: Wo sind den alle? Warum wünscht mir keiner einen wunderschönen guten Morgen?

Diener: Bitte um Vergebung, Prinzessin. Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich. Ich bin noch gar nicht richtig wach und deshalb wohl etwas verwirrt. (verbeugt sich)

Prinzessin: Das wurde ja auch Zeit! Aber wo sind denn nun all die anderen? Gerade noch war der Palast voller Bediensteten und voll von allem möglichen Gesinde, und jetzt ist überhaupt keiner zu sehen.

Diener: Aber es sind doch alle fort. Mit Eurem Herrn Papa.

Prinzessin: Mit Papa? Wo ist er denn hin?

Diener: Das ist doch allgemein bekannt: in den Krieg. Er hat sich schon gestern auf den Weg gemacht und hatte Euch suchen lassen, um Euch seinen Entschluß mitzuteilen. Da hat man Euch wohl nicht gefunden.

Prinzessin: Was soll das heißen – „nicht gefunden“? Ich habe ihm doch im Weggehen gesagt, daß wir Mädchen für heute nacht eine Séance geplant hatten, daß wir mit offenen Haaren im Keller sitzen und furchtbare Beschwörungsformeln sprechen wollten, um in die Zukunft zu sehen.

Diener: Und habt Ihr in die Zukunft gesehen?

Prinzessin: Wenn Du wüßtest, was wir gesehen haben! Puuuuhhhh! Da läuft es einem doch gleich kalt den Rücken herunter.

Diener: Ihr Glücklichen! Ich weiß so gar nichts von der Zukunft, lebe immer nur von einem Tag zum anderen. Und Euer Herr Papa auch: gestern abend wurde er irgendwie schwermütig, dachte an Euch, ließ Euch suchen, und auf einmal hat er alle seine Generäle und Heerführer zusammengerufen und ihnen gesagt, daß sie ihn nicht genügend lieben und ihm nicht treu genug dienen. Und sie sagten: „Majestät, wir dienen Euch, so gut wir können. Doch im Moment ist kein Krieg, und wir können unseren Heldenmut nicht unter Beweis stellen. Deshalb seid Ihr unzufrieden.“ Da wurde unser Väterchen Zar so mißmutig, daß ihm fast die Milch im Glas sauer geworden wäre. „Mein Töchterchen“, sagte er, „hat mich verlassen, verbirgt sich vor mir. Und ihr liegt mir auch nur auf der Tasche. Ihr habt nichts zu tun? Ihr werdet was zu tun kriegen.“ Und er befahl allen, von einer Minute auf die andere zu packen und noch in derselben Nacht in den Krieg zu ziehen.

Prinzessin: Aber wieso denn mitten in der Nacht? Hätte er nicht bis zum Morgen warten können? Dann hätten wir uns wenigstens voneinander verabschieden können, wie es sich gehört.

Diener: Aber Ihr kennt doch Euren Herrn Papa. Wenn den der Hafer sticht, gibt es doch kein Halten mehr. Wenn er sich am Abend in den Kopf setzt aufzubrechen, macht er sich mit Einbruch der Nacht spätestens auf den Weg.

Prinzessin: Hat er mir wenigstens einen Zettel geschrieben, damit ich weiß, was ich während seiner Abwesenheit zu tun habe?

Diener: Er hat alles aufgeschrieben, wie es sich gehört. Um zehn Uhr wird der Herold von dem Turm dort drüben dem ganzen Volk den Willen des Väterchen Zaren verkünden. Dabei wird auch gesagt werden, was Ihr in seiner Abwesenheit zu tun habt.

Prinzessin: Aber wieso denn so spät – erst um zehn?

Diener: Das wiederum nennt man eine Kriegslist. Das Väterchen Zar selbst ist mit dem Heer schon im Felde, aber von dem Krieg weiß noch niemand etwas: weder der Feind noch das eigene Volk. So versetzt er den Fremden unerwartet einen Schlag, aber weswegen er beleidigt ist und warum er kämpft, sagt er erst später. Das nenne ich einen klugen Kopf!

Prinzessin: Ja, ein kluger Kopf. Und ich muß mich den ganzen Morgen quälen und auf seinen Brief warten. Wenn er wenigstens dem Herold befohlen hätte, ihn früher zu verkünden.

Diener: Früher geht es auf keinen Fall. Euer Herr Papa hat gerade an Euch gedacht und gesagt: „Soll mein Töchterchen sich erst einmal ausschlafen.“ „Sie ist es nicht gewöhnt, vor zehn aufzustehen“, hat er gesagt. „Also verlest ihr meinen Erlaß auch um zehn Uhr.“

Prinzessin: Und was soll ich bis zehn Uhr machen? Schlafen will ich nicht mehr.

Diener: Aber ich möchte schlafen, Prinzessin! Es ging die ganze Nacht: Erst hieß es, sie nehmen mich mit in den Krieg, dann hieß es wieder, sie nehmen mich nicht. Dann hat mich das Väterchen Zar zu seinem Adjutanten gemacht und verlangt, daß ich ihm seine ganze Ausrüstung säubere, dann kam der Staatskanzler zum Zaren und erklärte, daß nur ein General Adjutant Seiner Majestät werden könne, und ich bin doch noch nicht einmal Soldat, sondern ein einfacher ziviler Diener. Dann hatte ich mich gerade schlafen gelegt, da kam der General angelaufen, weil er nicht wußte, wie er die Stiefel Seiner Majestät zu putzen und die Uniform zu bügeln hat. „Hilf mir“, hat er gesagt, „ich werde Dir ewig dankbar sein“. Ein bißchen Tabak hat er mir gegeben, dabei rauche ich gar nicht. Na, macht nichts, vielleicht kann ich’s ja mal gebrauchen. So habe ich mich dann noch die halbe Nacht mit der Kriegsuniform Seiner Majestät herumgequält. Und dann mußte ich ihn natürlich noch verabschieden. Wir haben noch kurz zusammengesessen und geschwiegen. Und als wir aufgestanden sind, hab ich ihnen allen meinen Segen gegeben, also dem ganzen Hof, dem Gesinde, allen Dienern und dem ganzen Hofstaat.

Prinzessin: Was – allen? Und wer ist bei mir geblieben?

Diener: Aber ich bin doch da. Das Väterchen Zar hat es selbst gesagt: „Ich überlasse Dir das Wertvollste, was ich habe – meine Tochter. Paß auf sie auf, kümmere Dich um sie, solange ich im Felde bin. Verwöhn sie nicht. Sei streng mit ihr, aber nicht zu streng.“

Prinzessin: Und weiter ist keiner da?

Diener: Was heißt „keiner“? Das Volk ist da – ein ganzes Land. Es sind ja nur die Armee und der Hofstaat abwesend. Die anderen sind alle da, wo sie hingehören. Jeder einzelne. Seine Majestät hat vor seinem Aufbruch persönlich noch einmal alle Listen überprüft. Wieviele in den Fabriken arbeiten, wieviele die Felder bestellen, in den Schulen lernen, wieviele in den Spitälern liegen, wieviele sich im Ausland aufhalten. Nicht ein einziger wird vermißt, keiner ist eigenmächtig geflohen. Es ist also alles in Ordnung. Und jetzt, Eure Hoheit, gestattet Ihr mir, schlafen zu gehen? Ich gähne hier schon die ganze Zeit, daß es mir Euch gegenüber unangenehm ist.

Prinzessin: Geh schon.

 

Der Diener tritt ab.

Die Prinzessin bleibt allein zurück. Sie singt fröhlich vor sich hin, und hüpft über den Hof wie ein junges Reh.

 

Prinzessin: Hurra! Ich bin allein! Niemand kann mir etwas befehlen und mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will. Und ich werde nur das tun, was ich mag. Ich werde nur Eis und Bonbons essen, nur Limonade und andere leckere Sachen trinken. Zuerst einmal werde ich nicht lernen, zweitens werde ich nicht aufräumen, drittens werde ich nicht... Ja, was werde ich nicht? Ach, egal! Was ich gerade nicht tun will, werde ich eben nicht tun. Und was will ich! Och, ich will so furchtbar viel machen! Ich werde also..., ach, ich weiß gar nicht, was ich alles machen werde.  (Vor Begeisterung fängt sie an, sich im Kreis zu drehen.)

Die Freundin tritt auf.

 

Freundin: Eure Hoheit! Wo seid Ihr denn hin? Es ist schon sieben Uhr. Ihr müßt Euch schlafen legen.

Prinzessin: Ich will aber nicht schlafen!

Freundin: Ihr müßt aber unbedingt schlafen! Sonst hat Eure nächtliche Weissagung gar keinen Sinn. Euch soll doch im Traum ein Magier erscheinen und eine Prophezeiung verkünden.

Prinzessin: Ja? Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt?

Freundin: Wir haben es Euch gesagt, Prinzessin. Aber Ihr wart unaufmerksam und habt nicht richtig zugehört.

Prinzessin: Natürlich, und schon bin ich wieder schuld. Warum eigentlich? Es ist doch immer dasselbe: Ihr redet undeutlich, und ich soll alles hören, verstehen und mir auch noch merken. Ich bin schließlich die Prinzessin, ich habe euch, meine Freundinnen und Dienerinnen – merkt Ihr es Euch doch!

Freundin: Wir merken es uns auch, Eure Hoheit. Ich zum Beispiel erinnere Euch daran, daß Ihr, damit die nächtlichen Weissagungen in Erfüllung gehen, unverzüglich schlafen legen müßt.

Prinzessin: Aha. Nun gut... Klar... (gähnt und hält sich dabei die Hand vor den Mund) Dann gehe ich mal. Begleitest du mich?

Freundin: Es ist mir eine große Ehre, Eure Hoheit.

 

Die Prinzessin und die Freundin gehen ab.

 

Eine Zeit lang ist niemand im Palast. Dann tauchen Schatten auf; schnell und lautlos huschen sie durch die Gemächer, raffen Kleidung und Schmuck zusammen, stecken alles in Säcke und verschwinden.

 

Die Uhr schlägt zehn.

 

Auf dem Turm erscheint der Herold und verliest laut:

 

„Erlaß des Zaren!

Vernehmt alle den Erlaß des Zaren!

Heute nacht haben Wir, Unsere Majestät der Zar, entschieden, daß unsere Schwerter lange genug vor sich hin gerostet sind und daß die Herrscher der angrenzenden Reiche uns nicht mit der uns gebührenden Achtung begegnen und sich bezüglich Unserer Person unziemliche Bemerkungen herausnehmen, daher haben Wir im Namen aller Unserer Untertanen das als Beleidigung Unseres ganzen Volkes aufgefaßt und befehlen:

Zum Ersten: Das Heer hat Uns, dem Zaren, vollständig zu folgen und mit Uns als Heerführer in den Krieg mit unserem Nachbarreich zu ziehen.

Zum Zweiten: Die Prinzessin bleibt im Palast und wird in Unserer Abwesenheit die Geschicke Unseres Landes lenken und im Palast für Ordnung sorgen.

Zum Dritten: Der Prinzessin wird anstelle des Titel „Eure Hoheit“ der Titel „Eure Majestät“ verliehen.

Zum Vierten: Alle treu ergebenen Untertanen haben die Prinzessin bei der Führung der Staatsgeschäfte und der Aufrechterhaltung der Ordnung im Palast nach Kräften zu unterstützen.

Zum Fünften: Nach der siegreichen Beendigung des Krieges und dem Erhalt von Kontributionen des besiegten gegnerischen Volkes versprechen Wir jedem treu ergebenen Untertanen eine ganze Mütze voller Goldmünzen.

Volk (hinter der Bühne): Hurrrrrraaaaaaa! Kriiiiiiiieeeeg! Es lebe unser Väterchen Zar! Es lebe unsere überaus großzügige Majestät!

 

Es erscheint die verschlafene Prinzessin im Nachthemd.

 

Prinzessin: Wer schreit da so? Ihr habt mich aufgeweckt.

Volk: Hurra! Es lebe der Krieg! Nieder mit den Nachbar, die uns gedemütigt haben!

Prinzessin: Na so was – die Nachbarn gefallen ihnen nicht. Dabei sind es doch nette Leute. In der vorigen Woche waren sie doch alle hier, auf Papas Geburtstagsfeier. Wann sollen die denn jemanden beleidigt haben? He! Ist hier wer?

 

Auftritt des Dieners.

 

Prinzessin: Schon wieder du?

Diener: Ja, ich, Eure Majestät.

Prinzessin: Aber ich bin noch keine Majestät. Ich bin eine Hoheit.

Diener: Nein, Eure Majestät. Von diesem Moment an seid Ihr Eure Majestät. Der Erlaß des Zaren ist verlesen, und Ihr seid von jetzt an die Stellvertreterin des Zaren auf dem Thron.

Prinzessin: Ich?

Diener: Jawohl, Ihr, Eure Majestät. (verneigt sich) Ihr seid jetzt die bedeutendste  Person in unserem Zarenreich, und wir alle schulden Euch Gehorsam und führen Eure Befehle aus.

Prinzessin: Wirklich, alle?

Diener: Ganz genau, Eure Majestät. Alle Untertanen sind Euch treu ergeben, jeder einzelne.

Prinzessin: Und ihr macht wirklich alles, was ich sage?

Diener: Unbedingt, Eure Majestät. Euer Wunsch ist uns Befehl.

Prinzessin: Was könnte ich denn da befehlen?... Ah ja, genau: Lest den Erlaß des Zaren noch einmal vor. Ich habe ihn nicht gehört, weil ich noch geschlafen habe, als er verlesen wurde.

Diener: Das geht auf gar keinen Fall, Eure Majestät. Ein Erlaß ist eine ernste Angelegenheit, den darf man nur einmal verlesen. Wenn er oft verlesen wird, gewöhnen sich die Leute daran und werden solchen Erlassen nicht mehr mit dem nötigen Respekt begegnen.

Prinzessin: Wirklich? Bist du dir da sicher?

Diener: Ich weiß nicht. Ich habe es von klein auf so gelernt und mich inzwischen daran gewöhnt, daß es so ist.

Prinzessin: Und wenn ich dir nun sage, daß doppelt genäht besser hält, dann heißt das, daß damit der Erlaß gewichtiger klingt und mehr respektiert wird, er zweimal verlesen werden muß. Stimmst du mir da zu?

Diener: Wie sollte ich Euch nicht zustimmen, wenn es einen Zarenerlaß dafür gibt.

Prinzessin: Dann sag dem Herold, daß ich einen Erlaß verkünde, daß alle Zarenerlasse zweimal zu verlesen sind. Und beeil dich ein bißchen!

Diener: Ich kann nicht, Eure Majestät.

Prinzessin: Warum nicht?

Diener: Ich bin nur ein einfacher Diener, ein kleiner Mann. Mit dem Herold darf aber nur der Oberkurier sprechen.

Prinzessin: Dann geh doch zum Oberkurier und sag ihm, daß er meinen Befehl an den Herold weitergeben soll.

Diener: Der Oberkurier ist aber nicht da, Eure Majestät.

Prinzessin: Wo ist er denn?

Diener: Im Felde mit Eurem Herrn Papa. Ich habe Euch doch unlängst gesagt, daß das Väterchen Zar mit dem ganzen Hofstaat, den Höflingen und dem Gesinde in den Krieg gezogen ist. Und der Oberkurier ist folglich mit ihm hinausgezogen.

Prinzessin: Und was sollen wir nun machen?

Diener: Ich weiß nicht, Eure Majestät. Das Zarenreich gehört nun Euch, also müßt Ihr Euch auch den Kopf darüber zerbrechen.

Prinzessin: Zerbrechen? Das hast du gut gesagt. Bloß warum soll ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es leichter ist, die Regeln zu brechen? Weißt du was, wir machen es so: Du wirst mein Oberkurier sein. Bist du einverstanden?

Diener: Wie könnte ich nicht einverstanden sein? Meine Bezüge werden höher sein als die bisherigen, Kleidung und Schuhe werden mir aus der Staatskasse bezahlt, und beköstigt werde ich auf Eure Kosten. Wo würde man einen solchen Dummkopf finden, der damit nicht einverstanden wäre? Was befehlt Ihr also, Eure Majestät?

Prinzessin: Also: Geh zum Herold und befiehl ihm, den Erlaß noch ein zweites Mal zu verlesen.

Diener: Das wird nicht gehen, Eure Majestät.

Prinzessin: Wie – das wird schon wieder nichts? Warum?

Diener: Damit Euer Erlaß über das nochmalige Verlesen des Erlasses rechtskräftig wird, müßt Ihr einen Erlaß darüber verkünden, daß Ihr mich zum Oberkurier ernennt und daß die Worte, die ich an den Herold richte, für ihn wie ein Erlaß von Euch gelten sollen.

Prinzessin: Na gut, dann mach’s doch so.

Diener: Zu Befehl, Eure Majestät! (geht ab)

 

Die Prinzessin sieht sich um und wird gewahr, daß im Palast ein heilloses Durcheinander herrscht und viele Dinge fehlen.

 

Prinzessin: Was ist denn hier los? Wo sind all die Sachen hin? Wurden sie etwa gestohlen? Wer hat es gewagt? He!

 

Der Diener  tritt ein.

 

Diener: Zu Euren Diensten, Eure Majestät.

Prinzessin: Wie, du bist allein? Ist außer dir niemand im Palast?

Diener: Ganz genau, Eure Majestät. Ich sagte doch bereits: Euer Herr Papa ...

Prinzessin: ...ist in den Krieg gezogen und hat den ganzen Hofstaat und alle Diener mitgenommen. Das habe ich schon gehört.

Diener: Ja, wenn Ihr es schon gehört habt, warum fragt Ihr dann?

Prinzessin: Sieh dich hier lieber mal um.

 

Der Diener sieht sich um.

 

Diener: Ich habe mich umgesehen, Eure Majestät.

Prinzessin: Ja, und nun?

Diener: Was, Eure Majestät?

Prinzessin: Siehst du nichts?

Diener: Was befehlen Eure Majestät, daß ich sehen soll?

Prinzessin: Was denn – siehst du selbst denn nichts?

Diener: Wozu, Eure Majestät? Ihr habt befohlen, daß ich mich umsehe – also habe ich mich umgesehen. Befehlt, was ich sehen soll, und ich werde es sehen.

Prinzessin: Und wenn ich dir nun befehle zu sehen, daß dort drüben Papa steht, siehst du ihn dann auch?

Diener: Wenn Ihr es befehlt, Eure Majestät, dann sehe ich ihn.

Prinzessin: Was soll das? Hast du denn keinen eigenen Kopf?

Diener: Doch, Eure Majestät. Aber was hat mein Kopf damit zu tun? Ich hätte mich auch um die eigene Achse drehen können. So etwa ... (dreht sich auf einem Bein um sich selbst) Da sieht man sogar besser.

Prinzessin: Und was siehst du nun?

Diener: Alles, Eure Majestät!

Prinzessin: Siehst du nun, daß wir bestohlen wurden?

Diener: Jawohl, Eure Majestät, ich sehe es.

Prinzessin: Und was sagst du dazu?

Diener: Was immer Ihr befehlt, Eure Majestät!

Prinzessin: Und wenn ich nichts befehle, was sagst du dann von dir aus dazu?

Diener: Nichts, Eure Majestät.

Prinzessin: Aber warum denn?

Diener: Weil ich jetzt der Oberkurier bin, Eure Majestät. Und die Aufgabe des Oberkuriers ist es nicht, selbst zu reden, sondern das zu wiederholen, was Ihr sagt, Eure Majestät, und Eure Befehle an den Herold weiterzugeben.

Prinzessin: Und selbst denken möchtest du gar nicht?

Diener: Wer würde bei dieser Entlohnung noch selbst denken wollen, Eure Majestät?

Herold (vom Turm herab): Hört alle her! Hört alle her! Und sagt nicht, ihr hättet es nicht vernommen! Ihre Majestät hat soeben zwei neue Erlasse verkündet: Erstens: Vom heutigen Tage an ist der einfache Palastdiener der Oberkurier Ihrer Majestät! Zweitens: Alle Erlasse, die Ihre Majestät künftig verkünden wird, sind zweimal zu verlesen. In Ausführung dieses Erlasses wiederhole ich das soeben Gesagte: Vom heutigen Tage an ist der einfache Palastdiener der Oberkurier Ihrer Majestät!

Prinzessin: Ist das alles?

Diener: Jawohl, Eure Majestät.

Prinzessin: Und wo ist die Wiederholung des Erlasses meines Vaters?

Diener: Ein neuer Erlaß tritt erst in Kraft, wenn er vom Herold verlesen wurde. Alle Erlasse, die bereits vorher verlesen wurden, fallen nicht in seinen Geltungsbereich. Dafür müssen aber alle Erlasse, die danach verkündet werden, unbedingt wiederholt werden.

Prinzessin: Aber wieso soll ich mir meine eigenen Erlasse zweimal anhören? Ich kenne sie doch auch so. Ich muß wissen, was der Erlaß meines Vaters besagt.

Diener: Dann müßt Ihr einen neuen Erlaß verkünden, der besagt, daß Ihr wünscht, den Erlaß Eures Herrn Papa noch einmal extra verlesen zu bekommen.

Prinzessin: Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?

Diener: Ihr habt mich nicht gefragt, Eure Majestät.

Prinzessin: Und dafür kleide ich dich ein, ernähre dich und zahle dir ein höheres Salär als einem einfachen Diener?

Diener: Jawohl, Eure Majestät.

Prinzessin: Mir scheint, daß du mir, als du noch ein einfacher Diener warst, nützlicher warst.

Diener: Das kann ich nicht wissen, Eure Majestät.

Prinzessin: Und was kannst du wissen?

Diener: Was Ihr befehlt, Eure Majestät. Und nicht mehr!

Prinzessin: Und raten kannst du mir gar nichts?

Diener: Überhaupt nichts, Eure Majestät! Beraten darf Eure Majestät nur der Herr Oberste Staatsrat.

Prinzessin: Ja, aber wo soll ich denn jetzt einen Staatsrat hernehmen, noch dazu einen Obersten? Ich habe ja noch nicht einmal einfache Räte.

Diener: Das kann ich nicht wissen, Eure Majestät.

Prinzessin: Warte mal... Und wenn ich dich nun zum Obersten Staatsrat machte? Was sagst du dazu?

Diener: Dazu sage ich, daß die Einkünfte eines Obersten Staatsrats weit höher sind als die Einkünfte des Oberkuriers. Außerdem stehen ihm auf Staatskosten ein Haus, zwei Ausfahrkutschen und vier Kutscher zu...

Prinzessin: Wieso vier Kutscher, wenn es nur zwei Kutschen sind?

Diener: Für den Fall, daß ein oder zwei Kutscher erkranken, Eure Majestät. Doch wartet, unterbrecht mich nicht... Zwei Kutscher, dreißig Lakaien und noch etwas. Das müßte man in den Staatsunterlagen nachsehen. Wie dem auch sei, ich bin einverstanden.

Prinzessin: Du bist einverstanden?

Diener: Natürlich? Wer würde dazu nein sagen?

Prinzessin: Nun, wenn du einverstanden bist, was rätst du mir also als Oberster Staatsrat?

Diener: Da muß ich zuerst einmal nachdenken.

Prinzessin: Dann denk etwas schneller!

Diener: Schnell denken können Oberste Staatsräte nicht. Um ihre Ratschläge zu überdenken, benötigen sie mindestens zwei Wochen, manchmal auch einen ganzen Monat.

Prinzessin: Soll ich vielleicht einen ganzen Monat hier herumstehen?

Diener: Es könnten sogar zwei werden. Es handelt sich schließlich um eine sehr wichtige Frage von staatstragender Bedeutung.

Prinzessin: Wäre es nicht einfacher, den Obersten Gendarmen zu rufen und zu fordern, daß er die Diebe dingfest macht?

Diener: Als Oberster Staatsrat denke ich, daß die von Eurer Majestät vorgeschlagene Lösung durchaus als weise und wahrhaftig staatstragend angesehen werden kann. Ich würde Eurer Majestät sogar raten...

Prinzessin: Was? Du kannst mir schon etwas raten?

Diener: Als Oberster Staatsrat möchte ich Eurer Majestät raten, sich den Orden am diamantenen Band für Weisheit und umfassendes Verständnis der gegenwärtigen Lage in der Geschichte unseres Staates zu verleihen.

Prinzessin: Und mehr kannst du mir nicht raten?

Diener: Als Oberster Staatsrat – nein.

Prinzessin: Dann ruf mir den Obersten Gendarmen!

Diener: Das kann ich nicht.

Prinzessin: Wieso nicht?

Diener: Aus zweierlei Gründen. Als Oberster Staatsrat kann ich nicht die Aufgaben eines Kuriers oder Oberkuriers übernehmen. Das ist der erste Grund. Der zweite Grund ist der, daß der Oberste Gendarm ebenfalls mit Eurem Herrn Papa in den Krieg gezogen ist.

Prinzessin: Nun gut, was soll’s... Dann muß ich dich eben zum Obersten Gendarmen ernennen.

Diener: Mit dem allergrößten Vergnügen, Eure Majestät!

Prinzessin: Ich weiß, ich weiß... Er hat höhere Bezüge, mehr Bedienstete und mehr Kutschen. Das habe ich alles schon gehört.

Diener: Nicht doch, Eure Majestät. Von all dem hat er soviel mehr, daß es unanständig wäre, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Viel wichtiger ist etwas anderes!

Prinzessin: Und was bitte?

Diener: Das wichtigste ist seine Macht! Der Oberste Gendarm ist ja so mächtig! So mächtig! Oh, Eure Majestät! Ihr macht Euch ja keine Begriffe, wie mächtig wir Obersten Gendarmen sind! Wir haben eine ganze Armee von Leuten mit Waffen, die sie gegen alle verdächtigen Personen, also gegen die Bevölkerung des ganzen Landes, einsetzen können. Wir haben unendlich viel Personal, Fachleute auf jedem erdenklichen Wissensgebiet, die sich glücklich schätzen, wenn sie uns für ein noch so geringes Salär einen Dienst erweisen dürfen. Wir verfügen über hervorragend abgerichtete Hunde, die imstande wären, einem Riesen oder sogar einem furchtlosen Recken die Kehle durchzubeißen. Wir sind befugt, in fremde Häuser einzudringen, Passanten zu zwingen, aus ihren Taschen das Unterste zuoberst zu kehren, Nörgler mit dem Stock zu schlagen und Andersdenkende einzukerkern: Wir haben eine solche Macht, daß im Vergleich zu uns alle Helden der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft ein Nichts sind. Das ist es, was uns Oberste Gendarmen ausmacht.

Prinzessin: Na, wenn du solche Macht hast und über solch ein Heer von Spezialisten verfügst, was hindert dich dann daran, die Diebe zu finden?

Diener: Nichts, Eure Majestät. Ihr müßt es nur befehlen.

Prinzessin: Dann befehle ich es dir.

Diener: Gestattet, daß ich mich zurückziehe... (verbeugt sich tief und verschwindet)

Prinzessin (sieht sich um): Ist denn das die Möglichkeit: einfach alles haben sie gestohlen! Sogar den Spiegel, die Vase samt den Blumen und auch die Uhr! Huch, ich bin ja nicht einmal angezogen. Und in diesem Aufzug rede ich auch noch mit dem Obersten Gendarmen! Bloß gut, daß niemand dabei war. Das hätte wieder ein Gerede gegeben! Ich werde mich erst einmal umziehen. (geht ab)

 

Die Freundin läuft über die Bühne und hält dabei etwas Zusammengerolltes im Arm.

Dicht hinter ihr folgt die Prinzessin. Sie ist immer noch im Nachthemd.

 

Prinzessin: He, Ihr da! Wer seid Ihr? Wo wollt Ihr hin? Warum habt Ihr mein Kleid genommen?

 

Die Freundin verschwindet.

 

Prinzessin: Und was soll ich jetzt anziehen? He, Oberster Gendarm!

 

Der Diener erscheint.

 

Diener: Still!

Prinzessin: Was heißt hier „still“? Ich habe dich gerufen.

Diener: Um den Obersten Gendarmen zu rufen, muß man nicht aus vollem Hals brüllen. Der Oberste Gendarm hört sogar ein Wispern im entlegensten Winkel des Zarenreiches. Er hat seine Ohren überall.

Prinzessin: Überall? Sogar im Palast?

Diener: Gerade im Palast, Eure Majestät. Sie werden es nicht glauben, aber im Palast gibt es mehr Spione als sonst irgendwo in Eurem Zarenreich.

Prinzessin: Und sie alle beziehen einen Sold?

Diener: Und keinen geringen.

Prinzessin: Soll das heißen, Papa und ich zahlen dafür, daß wir beobachtet werden?

Diener: Ganz genau, Eure Majestät.

Prinzessin: Aber wieso denn? Das verstehe ich nicht!

Diener: Ach, Prinzessin! Wenn die Menschen alles, was im Staate vor sich geht, verstehen würden, würde Euer Herr Papa jetzt zu Hause sein und Ihr würdet, munter wie ein Reh, mit Euren Freundinnen über die Wiese springen. Aber wenn wir etwas nicht verstehen, erklären wir es zur allerhöchsten Staatsräson – und schon sind wir wieder beruhigt.

Prinzessin: Jetzt hast du so viel geredet, daß ich überhaupt nichts mehr verstehe.

Diener: Das liegt allein daran, Eure Majestät, daß Ihr mit dem Obersten Gendarmen sprecht. Wir Obersten Gendarmen reden nun einmal so, daß uns nur Eingeweihte verstehen können.

Prinzessin: Eingeweiht in was?

Diener: In alles.

Prinzessin: Und gibt es viele von euch?

Diener: Nun, wir sind natürlich nur sehr wenige, doch wir schätzen unsere Arbeit, lieben sie und sind stolz, an großen Ereignissen beteiligt zu sein.

Prinzessin: Sind denn alle großen Ereignisse so geheim, daß nicht alle sie verstehen können?

Diener: Natürlich, Eure Majestät. Wenn alles, was an großen Dingen geschieht, für alle verständlich wäre, wozu würden wir, die Eingeweihten, dann gebraucht werden?

Prinzessin: Jetzt hast du mich schon wieder verwirrt, Oberster Gendarm. Und deine Arbeit bleibt liegen. Während du mir hier was von Geheimnissen und Eingeweihten erzählt hast, sind mir nicht nur alle Sachen aus dem Palast gestohlen worden, selbst mein Kleid ist weg. Wie soll ich denn jetzt unter die Leute gehen?

Diener: Oh, Eure Majestät! Dieser Fall ist so ernst, daß er auf keinen Fall ohne den Befehlshaber der Geheimpolizei zu lösen ist.

Prinzessin: Also gut... Dann löse ihn. Ich ernenne dich zum Befehlshaber der Geheimpolizei.

Diener: Zu Befehl, Eure Majestät! (flüstert) Geheime Diener, zu mir!

 

In diesem Moment kommen hinter den Möbeln und aus den dunkelsten Ecken Menschen hervor – die Geheimen Diener. Unter ihnen ist auch die Freundin.

 

Prinzessin (zu ihr): Wo willst du hin? Ich suche und suche dich. Du mußt wissen, mir wurde mein Kleid gestohlen. Kannst du mir nicht einen Rock oder irgend so etwas leihen? Ich kann mich doch so nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen.

Diener: Geheimagent Nummer Achttausenddreihundertzweiundfünfzig!

Freundin: Hier!

Diener: Wie ist dein Deckname?

Freundin: Freundin.

Diener: Wo ist dein Posten?

Freundin: Im Schlafgemach der Prinzessin.

Diener: Wo warst du, als das Kleid gestohlen wurde?

Freundin: Auf meinem Posten.

Diener: Was kannst du zum Verschwinden des Kleides sagen?

Freundin: Ich bin dem Täter nachgelaufen, konnte ihn aber leider nicht einholen.

Diener: Geheime Diener Nummer siebentausenddrei und zweitausendelf!

Geheime Diener (im Chor): Hier!

Diener: Durchsucht den Geheimagenten mit dem Decknamen Freundin!

Geheime Diener: Zu Befehl! 

 

Sie gehen zu der Freundin, heben sie mit den Füßen nach oben hoch, und das Kleid der Prinzessin fällt zu Boden. Dann wird die Freundin wieder auf die Füße gestellt.

 

Diener: Was ist das, Agent Freundin?

Freundin: Oh, das Kleid der Prinzessin! Ich gratuliere, Eure Majestät! Euer Kleid hat sich wieder angefunden!

Diener: Ich danke für deinen Einsatz, Agent Freundin!

Freundin: Ich diene ihrer Majestät nicht aus Angst, sondern für mein Gewissen!

Diener: Für die Entdeckung des geraubten Kleides der Prinzessin zeichne ich dich mit einer Prämie in Höhe von drei Monatssolden aus und befördere dich.

Freundin: Ich freue mich, euch nützlich zu sein, Befehlshaber der Geheimpolizei!

Diener: Agenten der Geheimpolizei! Ihr werdet unverzüglich, innerhalb von höchstens fünf Minuten alles finden und herbeischaffen, was heute nacht von den Verbrechern geraubt wurde. Wegtreten!

 

Die Geheimen Diener treten etwas zur Seite und beginnen, aus den Taschen ihrer Kleidung und großen Beuteln alles hervorzuholen, was im Palast gestohlen worden war, und es an seinen Platz zu stellen oder zu hängen.

 

Diener: Seht her, Eure Majestät. Ihr könnt Euch mit eigenen Augen davon überzeugen, daß alles gefunden wurde, was verschwunden war, und daß die Schuldigen bereits ihre gerechte Strafe erhalten haben.

Prinzessin: Wann denn?

Diener: Hört nur, Eure Majestät!

Herold (vom Turm herab): Hört alle her! Hört alle her! Und sagt nicht, ihr hättet es nicht vernommen! Heute früh wurden die Übeltäter gefaßt, die Wertgegenstände und das Kleid ihrer Majestät aus dem Palast gestohlen haben. Der Täter waren es dreiundachtzig. Sie alle wurden für das heimtückische Verbrechen zum Tode durch Enthaupten verurteilt. Das Urteil wurde bereits vollstreckt.

 

Geräusch eines Axthiebes

 

Diener: Das war der letzte, der dreiundachtzigste. Jetzt, Eure Majestät, könnte Ihr wieder ruhig schlafen. Nicht ein Räuber oder Verbrecher, der Euch übelgesinnt ist, ist in unserem Staate mehr übriggeblieben. (zu den Geheimen Dienern) Nun denn, ihr Falken! Ich danke euch für euren Einsatz!

Geheime Diener: Wir sind treue Söhne und Töchter ihrer Majestät!

Diener: Jeder von euch erhält drei Monatssaläre als Prämie und eine außerplanmäßige Beförderung.

Geheime Diener: Hurra! Hurra! Hurra!

Freundin: Kann ich noch eine zweite Beförderung bekommen? Ich habe schließlich auch die Uhr gefunden.

Diener: Aber ja.

Freundin: Es lebe Ihre Majestät!

Prinzessin: Was habe ich denn damit zu tun!

Diener: Auf die Plätze!

 

Die Geheimen Diener verteilen sich auf ihre Verstecke.

 

Diener (zur Prinzessin): Ihr, Eure Majestät, habt immer mit allem etwas zu tun. Welchen Befehl ich auch immer erteile – es ist automatisch Euer Befehl. Alles, was ich zum Wohle der Ordnung und des Staates tue, tut eigentlich Ihr.

Prinzessin: Heißt das, daß die Menschen eben auf meinen Wunsch hingerichtet wurden?

Diener: Ganz genau, Eure Majestät. Und ich, der ich nur den Willen Eurer Majestät in die Tat umsetze, habe Euren Befehl ausgeführt.

Prinzessin: Aber ich kenne diese Leute doch gar nicht. Und es hat auch keinen Prozeß gegeben.

Diener: Weit gefehlt, Eure Majestät. Die Gerichtsakte mit einem Umfang von zweitausend fünfzehn Ordnern befindet sich im Staatsarchiv, und Ihr könnt Euch mit dem Gang der Ermittlungen und der Prozeßführung vertraut machen.

Prinzessin: Wie habt ihr das denn geschafft? Ich habe das Kleid ja noch nicht einmal angezogen.

Diener: Die Geheimpolizei arbeitet schnell, präzise und fehlerfrei. Auf ihr ruhen Euer Staat und Euer Thron.

Prinzessin: Aber du hast doch gesagt, daß außer dir keiner mehr im Palast ist, weil alle mit Papa in den Krieg gezogen sind. Und nun stellt sich heraus, daß doch ganz viele da sind, schließlich hast du Nummern in den Tausendern genannt. Warum ist dann außer dir keiner da, wenn ich rufe?

Diener: Weil es geheime Diener sind. Sie sind nur für die geheime Tätigkeit zuständig, nicht für die, die jeder sehen kann. Das sind die besten Leute des Landes, sein Stolz, die Creme de la Creme des Staates.

Prinzessin: Und warum erfüllt diese Creme de la Creme nicht ihre patriotische Pflicht und ist mit Papa in den Krieg gezogen?

Diener: Weil die besten Leute nicht an der Front, sondern im Hinterland gebraucht werden. Sie müssen die geheimen Feinde des Staates ausfindig machen und erbarmungslos ausrotten.

Prinzessin: Etwa diejenigen, die sie ernähren und für ihren Unterhalt arbeiten?

Diener: Ganz genau, Eure Majestät. Die Creme de la Creme hat schon immer auf Kosten derer gelebt, die sie verachtet und haßt... Sie tut es bis heute und wird es auch weiter tun. Ihre Pflicht, dem eigenen Herrscher treu zu dienen, erfüllen diese besten Leute sehr gewissenhaft. Das habt Ihr mit eigenen Augen gesehen.

Prinzessin: Ja, das habe ich. Danke für das Kleid. Ich gehe mich umziehen.

Diener: Wie Ihr befehlt, Eure Majestät.

 

Die Prinzessin will gehen, bleibt aber auf halbem Wege stehen und dreht sich um.

 

Prinzessin: Und diese... Agentin mit dem Decknamen Freundin... Versteckt sie sich immer noch in meinem Schlafgemach?

Diener: Sehr wohl, Eure Majestät.

Prinzessin: Kann man sie nicht von dort entfernen? Sie stört mich.

Diener: Auf gar keinen Fall, Eure Majestät! Ihr Posten in unserem Staat ist mit dem heutigen Tag zum Posten Nummer Eins geworden. Wenn man den Posten Nummer Eins entfernt, braucht man all die anderen Zehntausende nicht mehr.

Prinzessin: Wieviel? Zehntausende?

Diener: Nun ja, vielleicht auch Hunderttausende... Aufgrund der immensen Geheimhaltung ich die genaue Anzahl nicht nennen.

Prinzessin: Könnte man sie nicht ein bißchen reduzieren und wenigstens ein paar Bedienstete aus ihren Reihen rekrutieren? Es könnte ja zum Beispiel sein, daß ich Hunger habe, und der Koch ist doch sicher auch mit Papa in den Krieg gezogen.

Diener: Sehr wohl... Das heißt, auf gar keinen Fall...

Prinzessin: Das habe ich jetzt nicht verstanden. Könntest du es noch einmal wiederholen?

Diener: Ich wollte sagen, Eure Majestät, „sehr wohl“ hat Euer Herr Papa, unser Zar, den Koch mit in den Krieg genommen und „auf gar keinen Fall“ kann Eurem Wunsch entsprochen werden, die Geheimagenten als Bedienstete Eurer Majestät zu nutzen.

Prinzessin: Wieso? Ich meine damit dein „auf gar keinen Fall“.

Diener: Weil unsere Geheimagenten über eine so hohen Grad der Spezialisierung verfügen und so gewieft in ihrem Hauptberuf sind, daß sie einfach nichts anderes machen können. Eure Majestät, Ihr glaubt ja gar nicht, wie schwierig es war, ihnen beizubringen, im Liegen zu schießen, beim Messerwerfen präzise zu zielen und mit Hilfe von Jiu-Jitsu, Karate und Kung-Fu zu kämpfen. Im einem Kampf Mann gegen Mann kann sich jeder von ihnen mit fünfundzwanzig Gegnern messen und sie besiegen. Aber Grütze kochen oder den Tisch abräumen das können sie, mit Verlaub gesagt, nicht. Um das Frühstück werden Eure Majestät sich wohl selbst kümmern müssen. Obwohl ... (er sieht auf die Uhr) eigentlich ist es schon fast Mittag. Und ihr seid immer noch hungrig. Gestattet, daß ich meine Anteilnahme zum Ausdruck bringe und mich entferne.

Prinzessin: Halt!

Diener: Ich höre, Eure Majestät.

Prinzessin: Ich ernenne dich hiermit zu meinem Koch!

Diener: Ist das Euer Ernst, Eure Majestät? Ihr vertraut mir einen so verantwortungsvollen Posten an?

Prinzessin: Was ist denn daran verantwortungsvoll? Noch eben warst du der Befehlshaber der Geheimpolizei, und das hat dich keineswegs verwundert. Und nun bist du ein einfacher Koch.

Diener: Ein einfacher Koch? Weit gefehlt, Eure Majestät! Der Koch Ihrer Majestät ist, wenn ich so sagen darf, der zweite Mann im Staat. Davon, wie der Koch Euer Mahl zubereitet, hängt Eure jeweilige Stimmung ab und wie Ihr die einen oder anderen Ereignisse in Eurem Land beurteilt.

Prinzessin: Ich verstehe schon wieder nicht: Wieso hängt meine Beurteilung der Ereignisse davon ab, wie du mein Mittagessen kochst?

Diener: Ganz einfach: Stellt Euch zum Beispiel vor, ich versalze Eure Suppe.

Prinzessin: Puuuuhhh!

Diener: Und Ihr müßt an diesem Tag über ein Gnadengesuch entscheiden.

Prinzessin: Dann werde ich es sorgfältig lesen, und wenn ich befinde, daß es besser wäre, diesen Menschen zu begnadigen, dann begnadige ich ihn.

Diener: Beschreit es nicht, Majestät. Stellt Euch vor, nach meiner Suppe verspürtet Ihr ein gewisses Brennen im Gedärm und Ihr hättet das Bedürfnis zu trinken. Ihr trinkt und trinkt, aber es tritt keine Besserung ein, weil das Salz nach immer mehr Wasser verlangt. Ihr lest das Gesuch und seid aber in Gedanken damit beschäftigt, daß das Wasser Euren Durst nicht gelöscht hat, auch der Met nicht, und daß Ihr von der Limonade noch größeren Durst bekommen habt. Vielleicht solltet Ihr es mit Mineralwasser versuchen? Und so lest Ihr und lest und könnt das Wesentliche doch nicht erfassen, nämlich, ob der Verurteilte schuldig ist oder nicht. Die Zeit drängt, und Ihr habt keine Kraft, um Euch darauf zu konzentrieren.

Prinzessin: Dann verschiebe ich das Lesen des Gnadengesuchs eben auf den nächsten Tag.

Diener: Und da ist mir das Essen vielleicht zu scharf geraten. Oder aber die Sache duldet keinen Aufschub; es muß schnell eine Entscheidung getroffen werden. Nehmen wir zum Beispiel an, es handele sich nicht um ein Gnadengesuch, sondern um ein Gespräch mit dem Gesandten des Nachbarreiches. Was dann?

Prinzessin: Schon gut, du hast recht. Der Koch ist der zweite Mann im Staat. Sind seine Bezüge höher als die des Befehlshabers der Geheimpolizei?

Diener: Der Koch hat keine festen Bezüge. Er lebt wie der Zar mit freier Kost und Logis, hat alles, wonach es ihn verlangt und tut, was er für richtig hält.

Prinzessin: Ahaaa! Das heißt also, er ist mächtiger als ich selbst?

Diener: Nein, Eure Majestät. Ihr könnt den Koch jederzeit seines Amtes entheben, Euch aber kann nur eine Revolution des Amtes entheben.

Prinzessin: Und was ist das?

Diener: Majestät, Ihr geht Euch jetzt besser ankleiden, und ich werde Euch ein Omelette zubereiten. Wir haben uns wohl etwas verplaudert... (Beide gehen ab.)

 

 

Zweiter Akt

 

Noch immer in den Gemächern des Zarenpalastes

Die Prinzessin sitzt am Tisch und ißt ein Omelette.

Der Diener steht mit einem Handtuch über dem Unterarm daneben und serviert ihr.

Die Freundin führt Kartentricks vor.

 

Prinzessin (zu ihr): Gut machst du das! Willst du ein Bonbon?

Freundin: Ja.

Prinzessin: Da, nimm.

 

Der Diener nimmt mit einer gezierten Geste ein Bonbon vom Tisch der Prinzessin und wirft es der Freundin hin. Diese fängt das Bonbon und steckt es in den Mund.

 

Prinzessin: Schmeckt’s?

Freundin: Göttlich, Eure Majestät!

Prinzessin: Na siehst du – göttlich! Und du hast heute nacht vorausgesagt, daß du ein bitteres Bonbon bekommen würdest. Glaub doch nicht an Weissagungen!

Freundin: Ich glaube auch nicht daran.

Prinzessin: Mit den Weissagungen ist es wie mit deinen Kartentricks – einfache Fingerfertigkeit, das ist alles.

Freundin: Wirklich, Eure Majestät, Eure Weisheit ist grenzenlos.

Prinzessin: Noch ein Bonbon?

Freundin: Ich bin Eurer Gnade nicht wert, Eure Majestät.

Prinzessin: Schon gut. Fang.

 

Der Diener nimmt wieder ein Bonbon vom Tisch und wirft es der Freundin hin. Diese fängt es auf und steckt es in eine kleine Tasche.

 

Prinzessin: Na, nun iß es schon auf.

Freundin: Aber ich habe doch das erste noch nicht einmal aufgegessen.

Prinzessin: Na, iß schon. Es schmeckt dir doch schließlich.

 

Die Freundin steckt das zweite Bonbon unwillig in den Mund und führt weiter Kartentricks vor.

 

Prinzessin: Jetzt es genug, Koch. Ich bin satt. Du kannst abräumen.

 

Der Diener räumt das schmutzige Geschirr auf die gegenüberliegende Tischecke.

 

Prinzessin: Ja, bist du denn etwa nur Koch?

Diener: Oh ja, Eure Majestät! Was für ein Vertrauen! Ich werde alles tun, um es zu rechtfertigen!

Prinzessin: Und außer dir habe ich überhaupt keinen Diener?

Diener: Nein. Eure Majestät.

Prinzessin: Dabei könnte ich jetzt so die Hilfe des Obersten Gendarmen gebrauchen.

Diener: Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl, Eure Majestät, aber ich kann Euch leider nicht helfen.

Prinzessin: Wenn du willst, mache ich dich wieder zum Befehlshaber der Geheimpolizei.

Diener: Was ich will, Eure Majestät, hat nicht die geringste Bedeutung. Wünsche äußern könnt allein Ihr.

Prinzessin: Nun gut. Dann wünsche ich, dich zum Befehlshaber der Geheimpolizei zu ernennen.

Diener: Ergebensten Dank für Euer Vertrauen, Eure Majestät. Doch das geht nicht.

Prinzessin: Warum nicht?

Diener: Gemäß dem Erlaß Eures Herrn Ur-Ur-Urgroßvaters kann ein Mitglied des Hofstaates nur befördert, nicht aber degradiert werden.

Prinzessin: Was heißt das nun wieder?

Diener: Das heißt, daß Ihr mich in meiner Position nur befördern und meine Bezüge erhöhen, auf keinen Fall aber sie kürzen könnt.

Prinzessin: Das heißt also, ich habe zwar einen Koch gewonnen, dafür aber den Befehlshaber der Geheimpolizei verloren.

Diener: Das heißt es wohl, Eure Majestät.

Prinzessin: Und wem dienen dann die hier? (zeigt auf die Freundin und die anderen Geheimen Diener, die sich rundherum verborgen halten)

Diener: Euch, Eure Majestät!

Prinzessin: Wie dienen sie mir denn, wenn ich nicht den geringsten Nutzen darin sehe?

Diener: Gemäß dem Erlaß Eures Urgroßvaters...

Prinzessin: Zum Teufel mit dem Urgroßvater! Ich will wissen, wen sie beschatten und wem sie dann berichten, was sie herausgefunden haben!

Diener: Sie beschatten alle und berichten dem Befehlshaber der Geheimpolizei, Eure Majestät.

Prinzessin: Aber der ist doch nicht da!

Diener: Man sagt: Ein weicher Sessel bleibt nicht lange leer.

Prinzessin: Warte, warte. Du hast mich schon ganz wirr gemacht! (zur Freundin) Hör auf! Das flimmert einem ja vor den Augen. Geh an deinen Platz.

 

Die Freundin hört auf, Kartentricks zu zeigen und verbirgt sich an der Tür zum Schlafgemach der Prinzessin.

 

Prinzessin: Ich brauche deine Hilfe, Koch.

Diener: Mit dem größten Vergnügen, Eure Majestät. Soll ich Euch einen echten Schaschlyk zubereiten? Eine Brotsuppe? Haifischflossen chinesisch? Oder vielleicht einen Hamburger, wie ihn die Amerikaner bevorzugen?

Prinzessin: Ich bin satt! Ich will nicht essen, sondern weinen!

Diener: Zum Weinen eignet sich geriebener Rettich oder ganz klein geschnittene Zwiebeln. Man kann auch scharfen Pfeffer mit Senf und einem Gläschen Wodka nehmen.

Prinzessin: Mein Ring ist weg.

Diener: Was?

Prinzessin: Ich habe meinen Ring verloren. Oder er ist mir gestohlen worden.

 

Von überall her stecken die Geheimen Diener ihre Köpfe mit Hörrohren an den Ohren hervor.

 

Diener: Was für ein Ring?

Prinzessin: Ein einfacher kleiner Ring, unansehnlich, nicht mal aus richtigem Gold und ohne Stein.

 

Die Ohren mit den Hörrohren verschwinden.

 

Diener: Ein ganz einfacher, sagt Ihr? Wozu braucht Ihr ihn denn? Eure ganze Schatzkammer ist voll von Gold, Platin und Edelsteinen. Aber ein einfacher Ring... Weg mit Schaden – vergeßt ihn doch einfach.

Prinzessin: Verstehst du, er... (sie stockt) Ich habe ihn von meiner Großmutter geerbt. Als Andenken. Ich hänge sehr an ihm.

Diener: Das verstehen wir. Das Andenken der Großmutter ist heilig. Dann werden wir versuchen, Euch zu helfen.

 

Der Diener überlegt, geht im Zimmer herum, von einer Ecke zur anderen. Die Prinzessin beobachtet ihn.

 

Diener: Also gut. Probieren wir doch, den Erlaß Eures Ur-Ur-Urgroßvaters nicht zu verletzen, sondern zu umgehen.

Prinzessin: Probieren wir es.

Diener: Ernennt mich zum Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie und zum amtierenden Koch Eurer Majestät.

Prinzessin: Das ist genial! Ich ernenne dich dazu! Und gleichzeitig auch zu meinem Oberkurier. Der Herold soll es verkünden.

 

Der Diener hebt die Hand, und im selben Moment erscheint der Herold am Turmfenster.

 

Herold (schreit): Hört alle her! Hört alle her! Und sagt nicht, ihr hättet es nicht vernommen! Ihre Majestät ernennt den Koch zum Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie und zum Oberkurier unseres Zarenreiches.

 

Der Diener droht ihm mit der Faust.

 

Herold (fügt eilfertig hinzu): ... und zum Obersten Staatsrat.

Prinzessin (klatscht in die Hände): Richtig! In diesen Positionen hast du dich schon bewährt!

Diener: Und jetzt werden Eure Majestät mich entschuldigen, ich muß mich um meine vordringlichsten Pflichten kümmern. (klatscht in die Hände)

 

Sofort kommen aus allen Winkeln die Geheimen Diener hervor.

 

 

Diener: Stillgestanden! Hände an die Hosennaht! An den Lippen zu hängen habt ihr mir, eurem unmittelbaren Vorgesetzten! Hände hoch! Vorwärts! Die Finger spreizen! (geht an der Reihe entlang und sieht sich dabei die mit Ringen geschmückten Finger an) Also ... Gold, Platin, Silber... Diamanten, Smaragde, Saphire... Und jetzt alle den Mund weit auf... So... Gold, Platin, Keramik... Pfui, Teufel! Hauch mich nicht an! Du solltest dir die Zähne putzen! Also... wieder Keramik... Hast du vielleicht eine Zunge! Wie eine Schlange... Und nun in den Backen... Nein, ich kann ihn nicht finden. (überlegt)

Prinzessin: Wirst du jetzt was unternehmen? Oder soll ich mir einen anderen Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie suchen?

 

Bei diesen Worten stellen sich alle Geheimen Diener in Reih und Glied auf und sehen die Prinzessin ergeben an.

 

Diener: Na also! Ich hab’s! (zu den Geheimen Dienern) Jeder von euch durchsucht jetzt seinen Nachbarn! Wer den Ring findet, wird sofort um zwei Dienstgrade befördert und erhält eine Prämie in Höhe von sechs Monatsgehältern.

Freundin: Sechs Monatsgehältern des alten oder schon des neuen Dienstgrades?

Diener: Gemäß der Dienstvorschrift in Höhe von sechs Monatsgehältern des neuen Dienstgrades. Los geht’s!

 

Die Geheimen Diener beginnen, sich gegenseitig gründlich zu durchsuchen.

 

Prinzessin: Und wer durchsucht dich?

Diener: Mich?

Prinzessin: Ja, dich. Vielleicht hast du ja den Ring gestohlen.

Diener: Aber... ich habe Euch doch mit meiner Ergebenheit, mit meinem treuen Dienst bewiesen, daß ich Euer allerergebenster Diener bin, daß es seit der Abreise Eures Herrn Papa niemanden gibt, der mir näher steht als Ihr, Eure Majestät.

Prinzessin: Das hast du bewiesen. Doch was sollte dich daran hindern, mich dieses Mal übers Ohr zu hauen? Hältst du mich wirklich für so blöd? Ich habe meine Lektion gelernt. Nehmen wir zum Beispiel die Freundin hier.

Freundin: Was ist mit mir?

Prinzessin: Nachspioniert hast du mir.

Freundin: Was denn sonst? Wie wäre ich sonst Eure Freundin geworden?

Prinzessin: Aber wenn du eine Spionin bist, was bist du dann für eine Freundin?

Freundin: Eine ganz normale. Oder habt Ihr es anders erlebt? Welche Prinzessin hat schon andere Freundinnen?

Prinzessin: Keine Ahnung. Aber ich hätte gern eine richtige Freundin, eine treue.

Freundin: Wollen kann man vieles. Ihr solltet nur versuchen, nicht nur zu wollen, sondern das dann auch zu bekommen.

Prinzessin: Bist du fertig?

Freundin: Ja.

Prinzessin: Bist du durchsucht worden?

Freundin: Ja.

Prinzessin: Dann durchsuch du jetzt den Obersten Gendarmen!

Diener: Agent Freundin! Ich untersage dir, mich zu durchsuchen!

Prinzessin: Warum?

Diener (zu ihr): Irgendwie muß ich doch meinen Stolz retten, oder?

Prinzessin: Und ich befehle: Durchsuch ihn!

Diener: Wenn du es wagst, mich anzurühren, entziehe ich dir alle Prämien und das dreizehnte Monatsgehalt!

Prinzessin: Und ich lasse dich köpfen, Freundin, wenn du ihn nicht anrührst!

Diener: Eure Majestät, Ihr habt keinen Henker.

Prinzessin: Ist er auch ausgezogen?

Diener: Jawohl.

Prinzessin: In den Krieg?

Diener: Jawohl.

Prinzessin: Wer hat dann die 83 Mann geköpft, die mein Palastinventar geraubt hatten? Ich selbst habe doch die Axthiebe gehört.

Diener: Die haben sich selbst geköpft.

Prinzessin: Selbst?

Diener: Jawohl.

Prinzessin: Wie soll das denn ausgesehen haben?

Diener: Nun ja, unser Volk ist fügsam und diszipliniert. Sie haben selbst die Holzklötze herangeschafft, die Äxte geschärft und sich dann nacheinander gegenseitig die Köpfe abgeschlagen. Und der letzte, der dreiundachtzigste hat sogar eine Guillotine gebaut, seinen Kopf unter das Messer gelegt und an der Strippe gezogen. Diesen letzten Schlage haben wir hier gehört, Eure Majestät.

Prinzessin: Das heißt, wir haben keinen Henker?

Diener: Nein.

Prinzessin: Ja, wenn das so ist... Dann ernenne ich dich zusätzlich zu all deinen Titeln und Ämtern eben auch noch zum Henker.

Diener: Darauf lasse ich mich aber nicht ein. Mein Tag ist auch so schon bis obenhin mit Arbeit angefüllt.

Prinzessin: Aber ich erhöhe auch deine Bezüge.

Diener: Um wieviel?

Prinzessin: Um zwanzig Prozent.

Diener: Fünfundzwanzig.

Prinzessin: Abgemacht. (gibt dem Herold, der diesem Gespräch die ganze Zeit aufmerksam gelauscht hat, ein Zeichen mit der Hand)

 

Herold (ruft vom Turm herab): Hört alle her! Hört alle her! Und sagt nicht, ihr hättet es nicht vernommen! Vom heutigen Tage an ist der Koch Ihrer Majestät, Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie, der Oberste Staatsrat und Oberkurier auch der Oberste Henker unseres Zarenreiches!

Volk:            Hoch lebe der Oberste Staatsrat!

            Hoch lebe der Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie!

            Hoch lebe Ihre Majestät!

            Hoch lebe der Henker!

Prinzessin: Walte deines Amtes, Henker!

 

Der Diener kriecht unter den Tisch und holt ein riesiges Fleischerbeil hervor.

 

Prinzessin: Also dann, was machen wir jetzt? Enthaupten oder durchsuchen?

Diener: Enthaupten.

Freundin: Durchsuchen. (geht zum Diener und beginnt, ihn zu durchsuchen)

 

Der Diener lacht, sobald er angefaßt wird, und quiekt, weil er kitzlig ist. Nach und nach fallen ihm Gabeln, Löffel und Papierrollen heraus. Die Axt fällt ihm aus der Hand, außerdem Handschellen, eine Pistole und eine Reihe anderer Dinge, die für den Inhaber einer solchen Anzahl von Ämtern unerläßlich sind.

 

Prinzessin (hebt eine der Papierrollen auf): Oh, Papas Erlaß! Genau der, der verlesen wurde, als ich geschlafen habe. Na also, was steht hier? (liest, erst, dann enttäuscht:) Ooooch, und ich hatte sonstwas gedacht. Das habe ich auch so gewußt. (wirft die Papierrolle dem Diener vor die Füße) Na, seid ihr fertig?

Freundin: Fertig, Eure Majestät. Das ist alles, was ich gefunden habe. (zeigt auf den Kram, der auf dem Boden herumliegt)

Prinzessin: Und der Ring?

Freundin: Der Ring ist nicht da.

Prinzessin: Woist er denn dann?

Freundin: Das kann ich nicht wissen.

Prinzessin (zum Diener): Aber du bist in Ordnung. Du bist ehrlich.

Diener: Euer ergebener Diener, Eure Majestät!

Prinzessin: Sammel deine Sachen ein und mach dich wieder an deine eigentliche Arbeit!

Diener: Stets gern zu Euren Diensten, Eure Majestät!

Prinzessin: Und worüber lachst du?

Diener: Das ist nur so... eine Angewohnheit, Eure Majestät.

 

Während der Diener seinen Trödel einsammelt, verfolgt die Prinzessin aufmerksam, wie die Freundin die Karten mischt.

 

Freundin: Schade um den Ring.

Prinzessin: Er wird irgendwohin gerollt sein. Jetzt werden wir ihn wohl kaum noch finden.

Diener: Wozu, in Gottes Namen, braucht Ihr denn diesen Ring? Vergeßt ihn doch einfach.

Prinzessin: Ja, vergiß mal so einen Ring. Es ist doch kein gewöhnlicher, sondern ein Zauberring.

 

Bei diesen Worten kommen wieder die Geheimen Diener mit ihren Hörrohren an den Ohren hervor.

 

Diener: Das sind doch Ammenmärchen. Wo soll denn heutzutage ein Zauberring herkommen?

Prinzessin: Er ist aber wirklich ein Zauberring. Meine Großmutter hat ihn mir geschenkt, als ich noch ganz, ganz klein war. Dieser Ring, hat sie gesagt, gehört unserem Geschlecht, seit uralter Zeit. Schon die Urgroßmutter meiner Urgroßmutter hat ihn getragen, und die wiederum hatte ihn als Andenken von ihrer Ur-Ur-Urgroßmutter bekommen. So alt ist dieser Ring. Damals hat es hierzulande noch Zauberer gegeben, und es geschahen alle möglichen Wunder.

Diener: Ja, ich habe als Kind davon gehört. Wir haben diese Geschichten Märchen genannt.

Prinzessin: Aber dieser Ring ist kein Märchen, es gibt ihn wirklich... Wenn man ihn auf den Ringfinger der rechten Hand setzt und einmal im Uhrzeigersinn dreht, kann man sich wünschen, was immer man will, und es geht in Erfüllung.

Diener: Seht Ihr, Majestät, und Ihr sagt, das sei kein Märchen.

Prinzessin: Du glaubst es nicht?

Diener: Ihr müßt mir verzeihen., Eure Majestät, aber nein, ich glaube das nicht.

Prinzessin: Wenn du es genau wissen willst, eben dank dieses Ringes ist unser Geschlecht zur Zarenfamilie geworden.

Diener: Wirklich?

Prinzessin: Ja, wirklich. Das war vor langer, langer Zeit, ich weiß schon nicht mehr, welche Urgroßmutter von mir sich in einen wunderbaren Ritter verliebt hat und sich, als sie den Ring gedreht hat, gewünscht hat, dieser Ritter würde sich auch in sie verlieben und Zar werden.

Diener: Ja, und weiter?

Prinzessin: Sie haben geheiratet, und er ist Zar geworden.

Diener: Und was hat der Ring damit zu tun?

Prinzessin: Was denn, das glaubst du auch nicht?

Diener: Mit Verlaub, Eure Majestät, nein. Ich würde es gern glauben, aber ich kann nicht. Das liegt an meinem Charakter: Ich glaube nur das, was ich mit meinen eigenen Augen sehe und was ich selbst anfassen kann.

Prinzessin: Ach, so ist das. (schürzt die Lippen) Wenn Papa aus dem Krieg heimkommt, wird er es dir schon beweisen. (wendet sich vom Diener ab, der Freundin zu, die immer noch Karten mischt und dem Gespräch aufmerksam lauscht) Nun zeig mir schon den Trick mit der „Fliegenden Dame“.

Freundin: Mit dem größten Vergnügen, Eure Majestät! (beginnt, den Trick vorzuführen – und mitten in dieser Vorstellung fällt etwas Metallisches aus den Karten heraus und rollt zu Boden)

Prinzessin: Oh, was ist denn das? Das ist ja mein Ring! (bückt sich danach)

 

Die Freundin stürzt sich, einem Adler gleich, auf den Ring und bedeckt ihn mit ihrem Körper.

 

Prinzessin: Was tust du? Das ist mein Ring! Gib ihn her!

Freundin: Nein! Jetzt ist es meiner! (springt vom Boden auf, wobei sie den Ring in der Hand hält, und hebt ihn über ihren Kopf) Jetzt setze ich ihn auf! Und kann mir etwas wünschen! Und dann werde ich Prinzessin!

Prinzessin: Tu’s nicht! (stürzt sich auf die Freundin)

Freundin (Setzt sich den Ring auf den Finger und dreht ihn): Ich will...

 

Die Prinzessin fängt an, mit ihr zu kämpfen. Beide stürzen zu Boden und balgen sich dort weiter.

 

Prinzessin: Gib ihn her!

Freundin: Rühr ihn nicht an!

Diener: Mädchen! Was macht ihr denn da? Was ist denn los mit euch? Das ist doch bloß ein Märchen! Nun hört schon endlich auf!

Freundin: Ich... will...

Prinzessin: Gib ihn her!

Freundin: Prinzessin werden!

Prinzessin: Meinen Ring!

Freundin: Und die Prinzessin soll...

Prinzessin: Gib ihn her, sag ich dir!

Freundin: Meinen Platz einnehmen!

 

Stille. Ein helles Blitzlicht. Donnergetöse. Dann ist die Bühne wieder beleuchtet.
Die
Prinzessin und die Freundin liegen verblüfft am Boden. Sie stehen auf.

Die Prinzessin macht einen Hofknicks und verbeugt sich vor der Freundin.

 

Prinzessin: Meine Verehrung für Euch, Eure Majestät.

Freundin: Geh an deinen Platz. Dir ist befohlen worden, mich zu beobachten, also beobachte mich. Aber unauffällig und so, daß du mich nicht störst.

Prinzessin: Zu Befehl, Eure Majestät! (verschwindet hinter der Tür zu dem Schlafgemach, das einst ihres war)

Freundin (zum Diener): Was siehst du mich so an, Oberkurier?

Diener (verneigt sich): Ich erwarte Eure Befehle, Eure Majestät!

Freundin: Eure Majestät! Das ist gut! Eure Majestät! Ruf mir meine treuen Geheimen Diener her!

Diener (flüstert): Zu mir!

 

Die Geheimen Diener kommen aus ihren Verstecken hervorgeschossen und stellen sich streng der Größe nach in Reih und Glied auf.

 

Freundin: Oberkurier, hiermit stelle ich dir mein neues Ministerkabinett vor. (Sie schreitet die Reihe ihrer ehemaligen Kollegen ab, klopft jedem einzelnen auf die Schulter und verteilt Titel und Funktionen.) Der Verteidigungsminister. Der Justizminister. Der Verwaltungsminister. Der Außenminister. Der Strafvollzugsminister... (und so weiter) Nun, Oberkurier, was sagst du dazu?

Diener: Prachtkerle! Falken!

Freundin: Und auch du, wie ich sehe... Du bleibst übrig als Innenminister und Minister für nationale Sicherheit. Dich zum Obersten Staatsrat zu machen halte ich für verfrüht.

Diener (beleidigt): Warum?

Freundin: Weil ich keine Berater brauche. Aber einen Henker... Einen Henker brauche ich natürlich schon... (überlegt) Einen Henker... einen Henker... (sieht ihre Kollegen an) Wen nehmen wir denn als Henker?

Diener: Erlaubt Ihr, daß ich Euch einen Rat gebe?

Freundin: Und zwar?

Diener: Alle abwechselnd.

Freundin: Was?

Diener: Abwechselnd, meine ich. Heute – der eine, morgen – der nächste, übermorgen – der dritte. Und so geht es reihum.

Freundin: Das ist ein Gedanke! Alle gemeinsam, und niemand trägt die Verantwortung. Die perfekte gegenseitige Deckung. Bravo, Oberkurier!

Diener: Stets zu Diensten, Eure Majestät!

Freundin: Du bleibst Oberster Staatsrat.

Diener: Ich schätze mich glücklich, Eurer Majestät dienen zu dürfen!

Geheime Diener: Hurra! Hurra! Hurra!

Freundin: Rührt euch! In die Ministerien wegtreten!

 

Der Diener und die Geheimen Diener gehen ab. Die Freundin bleibt allein zurück.

 

Freundin: Meine Träume sind wahr geworden! Ich bin die Prinzessin! Ich bin Herrscherin über Millionen! Über ihr Leben und ihre Geschicke! Die ganze Macht im Lande liegt in meinen Händen! Und das alles hier (zeigt um sich herum) und alles im Land gehört jetzt mir! Meine Stunde ist gekommen! Oberkurier! Zu mir!

 

­Der Diener eilt zu ihr.

 

Freundin: Verkünde dem Volk, daß der heutige Tag ein Staatsfeiertag ist! Er soll jedes Jahr als der wichtigste Feiertag unseres Landes begangen werden! Nenn ihn „Fest der nationalen Befreiung“!

Diener (Macht sich in einem Büchlein Notizen über das Gesagte.) Ich würde Euch raten, Eure Majestät, zu Ehren dieses Feiertages Volksfeste anzuberaumen und ein Feuerwerk zu veranstalten.

Freundin: Dein Rat ist angenommen, Oberster Staatsrat! Und nun führ es aus!

 

Der Diener verschwindet.

 

Freundin: Außerdem will ich... will ich... eine Torte mit Schlagsahne und richtigen, lange gelagerten Wein. Außerdem will ich... alle Kleider ansehen und anprobieren... neue bestellen... und... ich will... Oberkurier!

 

Der Diener erscheint.

 

Freundin: Was will ich sonst noch?

Diener: Mich deucht, Eure Majestät wünschen, die Macht richtig zu genießen.

Freundin: Genau das ist es! Das will ich wirklich!

Diener: Heute sind zwei Fuhren mit Beschwerden und Anträgen Eurer Untergebenen angekommen. Sie müßten alle durchgesehen und geprüft werden, Schuldige sind zu bestrafen und Unschuldige freizusprechen.

Freundin (unzufrieden): Wa-aas? Und das ist deiner Meinung nach die Macht?

Diener: Natürlich. Wer sonst sollte das alles entscheiden, wenn nicht der, der die Macht hat?

Freundin: Dann entscheide du doch. Ich hab keine Lust.

Diener: Das kann ich nicht. Dazu habe ich nicht die nötigen Vollmachten.

Freundin: Dann nimm sie dir doch.

Diener: Dafür müßte ich der Oberste Richter sein.

Freundin: Dann werd es doch.

 

Im selben Moment ruft der Herold vom Turm:

Hört alle her! Hört alle her! Vom heutigen Tage an ist der Oberkurier, Oberste Staatsrat, Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie auch der Oberste Richter unseres Zarenreiches!

 

Diener: Ihr seid so gütig, Eure Majestät!

Freundin: Ja, ich bin gütig. Nur erkennt das keiner, und niemand weiß es zu schätzen.

Diener: Warum? Wir schätzen Euch doch, Eure Majestät. Nicht wahr, Herold?

Herold: Auf Befehl des Obersten Richters unseres Zarenreiches wird unsere Majestät mit dem Orden für Güte und allgemeine Zuneigung und Dankbarkeit des ganzen Volkes geehrt!

Volk (begeistert): Hurra! Hurra! Hurra!

 

Diener: Seht Ihr, Eure Majestät, und Ihr habt gesagt, Euer Volk sei undankbar.

Freundin: Hab ich das gesagt?

Diener (holt einen riesigen Orden aus einer Mappe und heftet ihn ihr an die Brust): Ich beglückwünsche Euch, Eure Majestät.

 

Die Freundin geht zu einem Spiegel und betrachtet sich darin.

 

Freundin: Dieser Orden steht mir. Er schmückt mein Kleid so gut. Ich sehe so repräsentativ darin aus.

Diener: Oh, Majestät! Mit dem Orden seht Ihr einfach bezaubernd aus!

Freundin: Das denke ich auch. Wie steht es eigentlich an der Front? Vollbringen unsere tapferen Soldaten wahre Wunderwerke des Heldenmutes und der Selbstaufopferung?

Diener: Sie stehen dafür ein wie ein Mann. Unsere tapferen Soldaten sind nur von dem Gedanken beseelt, so schnell wie möglich ihr Leben für Eure Majestät zu geben!

Freundin: Das ist gut. Wie ist es mit den Offizieren?

Diener: Die Offiziere stehen mit einem Bein im Massengrab und warten nur darauf, daß Eure Majestät ihnen befehlen, sich vollständig dort hineinzulegen.

Freundin: Prachtkerle!

Offiziere (hinter der Bühne): Hurra-aaa!

Freundin: Und die Generäle?

Diener: Die Generäle und Admiräle sind wie lebende Tote. Sie sehen nichts, hören nichts, verstehen nichts und taugen zu nichts.

Freundin: Phantastisch! Und der Oberkommanierende?

Diener: Diesen Rang hat sich unser tapferes Väterchen Zar selbst verliehen. Er ist noch bei guter Gesundheit, wenn auch nicht mehr ganz bei Verstand.

Freundin: Was soll das heißen „nicht ganz“? Der Oberkommandierende muß doch entweder bei Verstand sein oder eben nicht. Wie steht es mit dem Väterchen Zaren?

Diener: Die Blut- und Urinanalysen haben ergeben, daß er bei Verstand ist, seine Taten allerdings...

Freundin: Sind die Analysen auf offiziellem Papier mit einem Wappen geschrieben?

Diener: Jawohl. Und mit Wasserzeichen.

Freundin: Sind Siegel darauf?

Diener: Jawohl. Und sie sind alle echt.

Freundin: Wieso zweifelst du dann, Oberster Staatsrat? Die Analysen auf Papier mit Wappen und Siegeln besagen, das Väterchen Zar ist bei Verstand. Dann verkünde es genau so dem Volk!

 

Der Diener gibt ein Zeichen, und der Herold ruft von seinem Turm herab:

Hört alle her! Hört alle her!

Wir übertragen einen Lagebericht von der Front. Unsere tapfere Armee mit dem Väterchen Zaren an der Spitze hat das Gebiet des Nachbarreiches betreten, den erbitterten Widerstand des Feindes niedergeschlagen und ist auf dem Vormarsch ins Landesinnere...

Volk: Hurra!

Herold: Im Verlauf der Kampfhandlungen hat der Feind erhebliche Verluste an Menschenmaterial und Kriegstechnik erlitten. Unsere Truppen haben eine bedeutende Menge materieller Güter erobert und sorgen nun dafür, daß sie in unser Zarenreich transportiert werden.

Volk (sehr begeistert): Hurra! Hurra! Hurra!

Herold: Auf Befehl Ihrer Majestät werden die Schulen unseres Zarenreiches geschlossen und in Lazarette für die Verwundeten umgewandelt, die von den Schauplätzen der heldenhaften Kämpfe unserer tapferen Armee heimkehren.

Volk (schon weniger begeistert): Hurra!

 

Freundin (zum Diener): Und was ist mit meinem ersten Befehl? Warum ist er nicht verkündet worden?

Diener (schlägt sich an die Stirn): Ich habe ihn vergessen! Ich habe ihn wirklich und wahrhaftig vergessen, Eure Majestät!

 

Herold: Hört alle her! Hört alle her! Der heutige Tag wird ab sofort ein Staatsfeiertag, er wird Tag der Befreiung heißen! An diesem Tag werden Volksfeste stattfinden, und in jeder Stadt wird ein Feuerwerk veranstaltet!

Volk (begeistert): Hurra!

Herold: Im Zusammenhang mit den finanziellen Aufwendungen zur Kriegsführung im Nachbarreich und zur Deckung der Kosten für die Durchführung der Festlichkeiten, werden die Steuern, die die Untergebenen Ihrer Majestät zahlen, verdoppelt...

Volk (niedergeschlagen): Hurra!

 

Die Freundin droht dem Diener mit der Faust. Der droht dem Herold.

 

Herold: Ich bitte um Verzeihung. Durch die Schuld des Schreibers ist ein Fehler aufgetreten... Die Steuern werden verdreifacht.

Volk: Hurra.

Herold: Gemäß den Gesetzen des Kriegszustandes wird der Schreiber zum Tod durch Erschießen verurteilt.

 

Es ertönt ein Schuß.

 

Freundin (gähnt): Mir ist irgendwie langweilig. Diese ganzen Staatsgeschäfte, Arbeit ohne Pause. Was gibt es noch?

Diener: Glückwunschtelegramme für Eure Majestät.

Freundin: Ach wirklich? Das ist doch interessant. Laß sie mich lesen!

Diener: Aber Eure Majestät! Es sind dreiundzwanzig Fuhren!

Freundin: Und wenn schon... Ich werde sie alle lesen müssen. Und zwar sofort.

Diener: Zu Befehl, Eure Majestät.

 

Der Diener begleitet die Freundin zu den Fuhren mit den Briefen.

Auf dem Turm steht der Herold, faltet Papiertauben und läßt sie ins Publikum fliegen.

 

Herold: Die ehrlichen Menschen des Landes geben sich nicht geschlagen. Sie sehen die im Lande geschehende Willkür, verurteilen die Gewalt und hassen die herrschende Clique der Schergen Ihrer Majestät. Sie schämen sich dafür, daß aus ihrer Mitte ein treuer Vasall des blutigen Regimes hervorgegangen ist: der Oberste Staatsrat, Oberkurier, Koch und Befehlshaber der Geheimpolizei und der Gendarmerie. Schimpf und Schade über ihn!

 

Es erscheint der Diener.

 

Diener (zum Herold): He, du! Ich rede mit dir! Komm da runter!

Herold: Wer? Ich?

Diener: Komm runter, sag ich.

 

Während der Herold von seinem Turm heruntersteigt, sammelt der Diener die Papiertauben auf.

 

Diener (zeigt dem Herold die Papiertauben): Hast du das geschrieben?

Herold: Nein.

Diener: Wer dann?

Herold: Ich weiß nicht.

Diener: Man hat mir gesagt, du seist es gewesen.

Herold: Das ist eine Verleumdung. Wer hat das gesagt?

Diener: Alle sagen es... Denkst du vielleicht, du bist der einzig Schlaue im Land? Und alle anderen begreifen gar nichts? Glaubst du, daß all das, was du hier geschrieben hast, ihnen völlig neu ist?

Herold: Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet.

Diener: Gut, ich erkläre es dir noch einmal langsam, damit auch du es verstehst. Das hier, was du geschrieben hast... Siehst du?

Herold: Ich sehe es. Aber ich habe es nicht geschrieben.

Diener: Also... wieviel dieser Dinger hast du zusammengeschmiert? Na?

Herold (jammernd): Ich habe sie nicht geschrieben.

Diener: Keine Angst. Ich werde dich nicht bestrafen. Ich möchte nur zu gern einmal nachrechnen, wieviele ehrliche Menschen es in unserem Land gibt. Sag mir nur, wieviel du geschrieben hast, und ich sage dir dann, wieviele dieser Flugblätter ich in der Hand halte.

Herold (vor Schreck zitternd): Sechstausendzweihundertzwölf.

Diener: Und das hier sind sechstausendzweihundertelf. Und alle... merk dir: alle ... haben mir die Leute freiwillig gebracht. Sie haben sie selbst abgegeben und gesagt, daß sie nicht ein Wort davon gelesen haben oder auch nur gewagt hätten zu lesen. Begreifst du jetzt? Nur einer, EINER, hat es mir nicht gebracht. Und der hat es sicher mit der Angst zu tun bekommen und hat es selbst verbrannt. Oder dein Flugblättchen ist verlorengegangen. Vielleicht hat es ja der Regen weggespült. Oder du hast dich einfach verzählt. Begreifst du jetzt?

Herold (völlig niedergeschlagen): Ja.

Diener: Nun gut. Für dieses Mal will ich dir vergeben. Geh an deine Arbeit.

 

Der Herold schleppt sich mühsam von dannen.

 

Diener (ruft ihm hinterher): Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Ich habe dich für einen Orden vorgeschlagen. Er heißt „Für den Dienst an Ihrer Majestät“. Du hast uns wirklich sehr geholfen herauszufinden, was wir für ein Volk haben und was es wert ist.

 

Der Herold steigt auf den Turm. Er sieht glücklich vom Turm herab und lächelt. Über seiner Schulter hängt ein Band mit einem großen Orden daran. Er ruft:

Unsere tapferen Truppen im Nachbarreich haben sich an einem außerordentlich wichtigen Brückenkopf verschanzt und führen erbitterte blutige Kämpfe mit einem Gegner, der kurz davor ist, sich zu ergeben. In diesem Zusammenhang werden die Steuern im Inland noch einmal auf das Doppelte erhöht.

Volk (mutlos): Hurra!

Herold: Im Zusammenhang mit den großen Verlusten an Menschenmaterial wird eine allgemeine Mobilisierung der Männer und Frauen aller Altersgruppen eingeleitet, der Kriegszustand im Lande ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt. Verstöße gegen diese Anordnungen werden nach den Kriegsgesetzen geahndet.

 

Es ertönen Gewehrsalven.

 

Diener (zu ihm): Du bekommst noch einen Orden. „Für die aktive Teilnahme an der militärisch-patriotischen Erziehung“.

Herold (Er beugt sich nach vorn und hängt sich noch ein Band mit einem Orden an die Brust. Dann richtet er sich wieder auf.) Ihr diene Ihrer Majestät treu und ergeben!

 

Es erscheint die Freundin. Sie sieht müde aus.

 

Freundin: Das war dann wohl alles... So ein Berg von Briefen! So viele Glückwünsche! Die vielen netten Worte! Wo sie die nur alle hernehmen. Da wird einem ja richtig schwindlig! Koch! Haben wir nicht noch irgend etwas zu trinken?

Diener: Etwas Kaltes oder etwas Warmes? Süßes oder Saures? Vielleicht etwas leicht Bitteres?

Freundin: Einfaches Wasser wäre mir am liebsten.

Diener: Wasser haben wir nicht.

Freundin. Na, dann etwas Kaltes und Säuerliches. (während der Diener an den Kühlschrank geht und ein Getränk herausnimmt, überlegt sie) Also, jetzt trinke ich etwas und bestelle mir Torte... Dann esse ich die Torte und gehe... Wohin gehe ich denn?... Ach ja, ich gehe schlafen. Ich ziehe mich aus, lege mich hin und ruhe mich aus... (nimmt das Glas, das ihr der Diener reicht, nippt daran) Bin ich müde...

Diener: Euer Bett ist schon bereitet, Eure Majestät.

Freundin: Ja, ich gehe schon... Aber irgend etwas wollte ich vor dem Schlafen noch machen... Weißt du nicht mehr, was es war, Oberkurier?

Diener: Ich weiß, Eure Majestät. Gerade als Ihr einen Brief aus der einundzwanzigsten Fuhre gelesen habt, geruhtet Ihr, darüber nachzudenken, daß es wohl nicht schlecht wäre, sich mit dem Kabinett zu treffen und die Minister zu fragen, wie die Dinge im Staat stehen.

Freundin: Genau das war’s! Genau daran hatte ich gedacht Und außerdem hatte ich überlegt, daß ich all meine Kleider anprobieren und so etwa zwanzig neue bestellen müßte.

Diener: Eure Kleider sind im Schlafgemach, Eure Majestät. Soll ich die Minister ins Schlafgemach oder hierher beordern?

Freundin: Hierher natürlich. Im Schlafgemach schlafe ich.

 

Der Diener klatscht in die Hände, und schon kommen die Minister aus ihren Ecken gekrochen und stellen sich strikt der Größe nach auf. Jeder trägt einen Aktenordner unter dem Arm, auf dem jeweils steht „Geschäftsbereich 1“, „Geschäftsbereich 2“ usw. Einer von ihnen hat keinen Aktenordner.

 

Freundin (zeigt auf ihn): Wer ist denn das?

Diener: Das ist der Minister ohne Geschäftsbereich.

Freundin: Und was macht der?

Diener: Nichts.

Freundin: Und die anderen?

Diener: Dasselbe.

Freundin: Und wie stehen die Dinge bei ihnen?

Diener: Hervorragend.

Freundin: Und wie funktionieren ihre Ministerien?

Diener: Genauso wie vorher.

Freundin: Sind die Leute zufrieden?

Diener: Sie jubeln, Eure Majestät!

Freundin: Zahlen sie die Steuern?

Diener: Mit Vergnügen, Eure Majestät!

Freundin: Und die ... Kriminalität ... geht sie zurück?

Diener: Nicht nur täglich, nein, sogar stündlich!

Freundin: Und der Wohlstand des Volkes?

Diener: Mehrt sich!

Freundin: Was gibt es noch?

Diener: Die Preise sinken von Tag zu Tag, das Warenangebot steigt, der Pro-Kopf-Verbrauch an Fett und Kalorien steigt, die Selbstmordrate sinkt, der Wohnraum pro Kopf steigt, die Arbeitslosigkeit ist abgeschafft, das Analphabetentum vollständig liquidiert, und das Durchschnittsgewicht des Durchschnittsmenschen übersteigt die Vorjahreszahlen um ganze zweieinhalb Prozent.

Freundin: Das heißt, ich regiere gut, stimmt’s?

Diener: Wir haben zahlreiche Bittschreiben aus der Bevölkerung erhalten, in denen die Menschen sich wünschen, daß Ihr als Allergrößte Majestät aller Zeiten in unserem Reich anerkannt und zur Gottheit erhoben werdet und daß Denkmäler für Euch in allen Städten und Dörfern unseres Landes errichtet werden. Die Mittel zur Verewigung Eurer Majestät wurden bereits aus der Staatskasse bereitgestellt, und fünftausend Bildhauer haben mit der Arbeit begonnen.

Freundin: Und die Kleider?

Diener: Durch die rasante Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der Textilindustrie werden die Arbeiterinnen in den Nähereien statt der zwanzig von Euch in Auftrag gegebenen Kleider extra für Euch zweihundert exklusive Kleidermodelle anfertigen und jeweils ebenso viele Garnituren von Leibwäsche und Bademoden.

Freundin: Zweihundert... Was soll das? Soll ich alle zwei Tage ein neues Kleid anziehen?

Diener: Das hatte ich vergessen zu erwähnen. Die tapferen Arbeiterinnen der Textilindustrie haben, als sie erfahren haben, daß die Kleider für Euch persönlich bestimmt sind, beschlossen, ihren Arbeitstag freiwillig auf zehn Stunden zu verlängern und im vorgegebenen Zeitraum statt zweihundert Kleidern dreihundertfünfundsechzig zu nähen – für jeden Tag des Jahres eins.

Freundin: Bravo! Wie kann ich sie dafür auszeichnen?

Diener: Nach Abschluß der Arbeiten wird jede Schneiderin eine zusätzliche Essenmarke erhalten.

Freundin (gähnt und streckt sich): Das ist gut. Und jetzt werde ich schlafen gehen. (geht in Richtung des Schlafgemachs ab)

Diener (zu den Ministern): Kehrt! An eure Plätze im Gleichschritt marsch!

 

Die Minister verteilen sich auf die Nischen, in denen sie als Geheime Diener gehockt hatten.

 

Diener: Wo wollt ihr denn hin, ihr Schwachköpfe?!

 

Die Minister lächeln irritiert und kommen aus ihren Verstecken hervor. Dann gehen sie ab.

 

Diener: Das ist die Macht der Gewohnheit! (streckt sich) Na gut. Dann werde ich auch gehen und mich etwas ausruhen. (geht zum Ausgang, doch in diesem Moment hält ihn der gellende Aufschrei einer weiblichen Stimme zurück) Was gibt es denn noch?

 

Aus dem Schlafgemach kommt die Freundin gerannt. Sie ist halb bekleidet, ihre Augen vor Schreck geweitet.

 

Freundin: Da... da ist sie...

Diener: Wer ist da? Wer ist sie?

Freundin: Eine Frau. Eine fremde Frau.

Diener: Na und?

Freundin: Ich wollte ein Kleid anprobieren, da saß sie ... im Kleiderschrank.

Diener: Agent Prinzessin!

 

Es erscheint die Prinzessin.

 

Diener: Was erlaubst du dir, Agent?

Prinzessin: Ich führe meinen Befehl aus.

Freundin: Aha! Dann bist du also ein Geheimagent! Das hättest du ja auch gleich sagen können. Geh an deinen Platz zurück!

Prinzessin: Zu Befehl! (geht ab)

Freundin: Ein guter Agent.

Diener: Meine Schule.

Freundin: Aber irgend etwas fehlt ihr trotz allem.

Diener: Jiu-Jitsu, Karate, Kung-Fu?

Freundin: Nein. Hat sie ein Abhörgerät?

Diener: Nein, Eure Majestät.

Freundin (holt ihr Hörrohr hervor): Hier, gib ihr das.

Diener (nimmt das Hörrohr): Zu Befehl!

Freundin: Und ein Fernsichtgerät? (holt aus ihrer Tasche ein Fernglas) Und ein Riechgerät? (holt einen kleinen Hund aus ihrer Tasche) Und ein Hetzgerät? (holt ein Diktiergerät hervor) Und ein Denunziergerät?

Diener (holt unter dem Tisch eine Schreibmaschine hervor): Hier, Eure Majestät.

Freundin: Hach, ist die aber schön! Gib sie mir, Oberkurier! Wenn du wüßtest, was ich jetzt schreibe!

Diener: Bitte, Eure Majestät. (stellt die Schreibmaschine auf den Tisch und geht leise auf Zehenspitzen hinaus)

Freundin (setzt sich an die Schreibmaschine und beginnt zu tippen): An Seine Majestät, den Zaren. Bericht Nummer Eins. Während Ihr, Herr, ohne Euren altersschwachen Körper zu schonen, gegen die Feinde unseres Landes kämpft, agieren in Eurem Reich Spione der feindlichen Macht, deren Ziel es ist, die bestehende Ordnung zu stürzen und neue Strukturen zu etablieren. Als treue Untergebene Eurer Majestät kann ich nicht unbeteiligt zusehen und es unterlassen, Euch über alle zu berichten, die ich des Landesverrats und des Verrates an unserem Väterchen Zaren verdächtige.

 

 

Dritter Akt

 

Immer noch in den Palastgemächern, dieselben handelnden Personen. Die Freundin hat inzwischen ihren Bericht zu Ende geschrieben und ruht sich aus.

 

Freundin: Na also, die Nacht ist um... Wir haben Karten gelegt... Gut... Der Agent Prinzessin ist eine wunderbare Kartenlegerin. Wie geschickt sie die Karten zu mischen versteht. Man spürt die Erfahrung und die solide Ausbildung! Mit so einer Qualifikation ist es zwecklos, sie als einfachen Geheimdiener zu beschäftigen. Man müßte sie in irgendeinen anderen Staat schleusen, damit sie die dortigen Staats- und Produktionsgeheimnisse ausspioniert. Die U-Boote und Arsenale... Ja, wenn man es genau bedenkt und die Staatsinteressen berücksichtigt, kann jemand mit ihrem Talent dem Väterchen Zaren von großem Nutzen sein. Die Zeichnungen geheimer Waffen zu stehlen, das sind nicht irgendwelche kleinen Tricks...

 

Herold (hält sich ein Megaphon an den Mund und verkündet im Tonfall eines Radiokommentators):
Achtung! Achtung! Wir übertragen eine Meldung von höchster staatstragender Bedeutung! Heute um 7 Uhr 14 Minuten Ortszeit haben unser Väterchen Zar und der König des Nachbarreiches einen Waffenstillstand geschlossen!

Volk (freudig): Hurra!

Herold: Nach den Bedingungen des Waffenstillstandes haben unsere Truppen das Nachbarreich innerhalb von 24 Stunden zu verlassen.

Volk: Hurra!

Herold: Unser Väterchen Zar hat in seiner unendlichen Güte beschlossen, seine Mannen auf ihrem Marsch nicht unnötig zu belasten und dem Gegner alle von ihm eroberten Güter und Trophäen zu überlassen.

 

Freundin: Und was ist mit den Mitbringseln? Bringen sie etwa keine Geschenke mit?

 

Herold: Weiterhin schenkt unser Väterchen Zar dem Feind alle Waffen unserer Armee, alle Güter aus den Trecks sowie alle Pferde und Wagen. In Begleitung der Armee des Nachbarreiches ist er zu Fuß unterwegs zu unserer Landesgrenze.

 

Freundin (freudig): Das Väterchen Zar kehrt zurück! (klatscht in die Hände, nimmt ihren Bericht und steckt ihn in einen großen Umschlag) Oberkurier!

 

Es erscheint der Diener.

 

Diener: Hier bin ich, Eure Majestät.

Freundin: Ich ernenne dich zum Obersten Postmeister unseres Staates. Begib dich zu unserer heranrückenden Armee und übergib diesen Brief dem Zaren persönlich.

Diener: Stets zu Diensten, Eure Majestät! (geht ab)

Freundin: Ich gehe mich umziehen und das Empfangskleid anlegen... He, Herold! Wenn jemand fragt, sag, daß ich mich für den Empfang des Zaren umziehe. (geht ebenfalls ab)

 

Die Prinzessin sieht aus dem Versteck hervor, in dem sich die Freundin verborgen hielt, als sie ein Geheimdiener war. Sie hat ein Hörrohr, ein Fernglas und Handschellen bei sich.

 

Prinzessin (in lautem Kommandoton): Herr Koch, Oberster Staatsrat, Befehlshaber der Geheimpolizei und so weiter! Der Agent mit dem Decknamen Prinzessin erstattet Bericht...

Herold (von oben): Er ist nicht da.

Prinzessin: Was soll das heißen – nicht da? Ich habe für jetzt einen Berichtstermin. (fährt mit ihrem Bericht fort) In dem mir anvertrauten Beobachtungsabschnitt wurde in der letzten Stunde nichts Verdächtiges gesichtet. Im Verlauf der Beobachtung...

Herold (unterbricht): Er hört es sowieso nicht. Ihre Majestät hat ihn der heranrückenden Armee entgegengeschickt. Er ist doch jetzt auch noch Oberster Postmeister.

Prinzessin: Und Ihre Majestät?

Herold: Ihre Majestät ist Kleider anprobieren gegangen.

Prinzessin: Soll das heißen, wir beide sind jetzt allein?

Herold: Jawohl, Agent mit dem Decknamen Prinzessin!

Prinzessin: Geheimdiener, zu mir!

 

Die Geheimen Diener, die gleichzeitig Minister sind, kommen angelaufen. Sie stehen, wie es gerade kommt.

 

Prinzessin: Ich eröffne die Sitzung des oppositionellen Untergrundkomitees. Es gibt nur einen Tagesordnungspunkt: den Sturz des bestehenden oligarchischen Regimes des Kochs, Obersten Staatsrates, Befehlshabers der Geheimpolizei und der Gendarmerie, des Obersten Postmeisters...

Herold: Und Oberkuriers!

Prinzessin: Und Oberkuriers! Hat jemand Einwände? Keine Einwände. Kommen wir nun zur Planung des bewaffneten Aufstandes zum Sturz des allen ehrlichen Menschen verhaßten Regimes...

 

In diesem Moment tritt die Freundin ein. Die Minister stellen sich strikt der Größe nach in einer Reihe auf.

 

Freundin (trägt zwar ein neues Kleid, hat aber den Orden angelegt):  Das Kabinett ist schon zusammengetreten? Hervorragend! Finanzminister! Führe eine Staatsanleihe bei der Bevölkerung durch, um die Feierlichkeiten zu finanzieren, die zu Ehren des Empfanges des Väterchen Zaren, des Bezwingers der feindlichen Armee, und unserer ruhmreichen Armee ausgerichtet werden! Verwaltungsminister! Organisiere für dieses Geld die Feste im ganzen Land und veranstalte ein Gelage für den gesamten Hofstaat des Zaren. Außenminister! Sorge für die Anwesenheit des diplomatischen Korps bei den Feierlichkeiten! Alle anderen sorgen für Ordnung und Sicherheit, damit die Festplätze von möglichen Provokationen verschont bleiben. Wegtreten!

 

Die Minister sind dabei auseinanderzulaufen, doch die Freundin hält sie plötzlich zurück.

 

Freundin: Halt! Das hatte ich ja ganz vergessen. Verhängt eine Ausgangssperre! Damit während der allgemeinen Volksfeste keine Unbefugten auf den Straßen sind. Gebt Passierscheine an die zuverlässigsten Leute aus! Abmarsch!

 

Die Minister laufen in alle Richtungen davon.

 

Freundin (bemerkt die Prinzessin): Ach du bist das?... Gut gemacht! Willst du ein Bonbon?

Prinzessin: Ja.

Freundin (wirft ihr ein Bonbon zu): Da, nimm. Schmeckt’s?

Prinzessin (fängt es und steckt es in den Mund) : Göttlich, Eure Majestät!

Freundin: Na siehst du – göttlich! Und du hast heute nacht vorausgesagt, daß du ein bitteres Bonbon bekommen würdest. Glaub doch nicht an Weissagungen!

Prinzessin: Ich glaube auch nicht daran.

Freundin: Mit Weissagungen ist es wie mit Kartentricks – einfache Fingerfertigkeit, das ist alles.

Prinzessin: Wirklich, Eure Majestät, Eure Weisheit ist grenzenlos.

Freundin: Willst du noch ein Bonbon?

Prinzessin: Ich bin Eurer Gnade nicht wert, Eure Majestät.

Freundin: Schon gut. Fang. (wirft der Prinzessin ein Bonbon zu)

 

Die Prinzessin fängt das Bonbon auf und steckt es mit einem angewiderten Gesichtsausdruck in den Mund.

 

Freundin: Was kannst du alles?

Prinzessin: Alles, Eure Majestät! Kung-Fu, Karate (zeigt es)... Ich schieße mit allen Arten von Waffen, kann Messer werfen... (demonstriert auch das) Ich sehe durch Wände hindurch, höre durch alles hindurch.

Freundin: Kannst du Tricks vorführen?

Prinzessin: Ich kann alles. (nimmt nun aus ihrer Tasche Karten, beginnt, sie zu mischen)

 

Herold (sieht durch ein Fernrohr und kommentiert, was er sieht): Die siegreiche Armee unseres Väterchen Zaren hat die Grenze unseres Zarenreiches in einer kürzeren Frist überschritten, als es das Abkommen vorsah. Der Armee des Nachbarreiches ist es nicht gelungen, unsere tapferen Truppen einzuholen.

Freundin: Ich muß mich für das Fest fertigmachen. Die Tricks kannst du mir später vorführen... Wie sehe ich aus? (dreht sich vor der Prinzessin und zeigt sich von allen Seiten) Und der Orden? Paßt der Orden zu dem Kleid? Ach, es ist schon ein Kreuz mit diesen ganzen Orden! Man könnte direkt zu jedem Kleid einen neuen Orden bekommen! Nun, wie ist es? Paßt er? Oder soll ich ein anderes Kleid anziehen?

Prinzessin (betrachtet sie): Gut. Wirklich gut, Eure Majestät! Einfach wunderbar...

Freundin: Im Ernst? Belügst du mich auch nicht? Sieh genauer hin! Schlägt es auch nirgends Falten?

Prinzessin: Ist das schön! Ihr seht darin einfach hinreißend aus!

 

Herold: Im freudigen Überschwang der Gefühle, die sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat ergriffen haben, werfen sich die siegreichen Truppen auf die Felder und Ländereien ihrer über ihre Heimkehr glücklichen Landsleute und klauben das Korn gleich von den Äckern, essen ungewaschenes Obst, fangen Hühner, sammeln die Eier ein und schlachten das Vieh. Das Brot in der Fremde ist nun einmal bitter, und daheim erscheint einem ein einfacher Brotlaib wie eine Torte. Unser glückliches Volk holt nun schon Knüppel und Heugabeln, Messer und Deichseln herbei, um die Sieger willkommen zu heißen.

Freundin: He, was brüllst du da? Werden die Soldaten etwa verprügelt?

Herold: Sie werden begrüßt, Eure Majestät! Das Volk ist glücklich, seine Helden zu sehen.

Freundin: Wo bleibt dann das „Hurra“? Warum höre ich keine Begeisterungsrufe aus dem Volk?

Herold: Sofort, Eure Majestät. (holt ein Tonbandgerät aus dem Turm, versucht, es einzuschalten, was nicht gelingt, sagt dann bekümmert:) Es ist kaputt, Eure Majestät. Oder vielleicht sind die Batterien leer...

Freundin: Willst du mich übers Ohr hauen? Oder beruhigen? Sag mir die Wahrheit – die Wahrheit!

Herold: Das kann ich nicht, Eure Majestät. Ich habe es verlernt.

Freundin: Dann lern es wieder!

Herold: Dazu fehlt mir die Zeit, Eure Majestät. (sieht wieder durch sein Fernrohr) Was sich dort nur abspielt! Mein Gott, was sich da abspielt!

Freundin: Na, nun sag schon!

Herold: Ich kann nicht, Eure Majestät. Ich weiß nicht, wie ich Euch etwas vormachen sollte, und die Wahrheit bringe ich nicht über die Lippen... Ach, ach, ach! Das darf doch nicht wahr sein! ... Nein, das ist doch... Das hätte ich ja nie gedacht!... Das ist doch nicht zu fassen!... Was sich da abspielt! Was sich da abspielt! Ei-ei-ei!

Freundin: Spann mich nicht auf die Folter! Rede! (der Herold, völlig im Bann des Geschehens, schenkt ihr keine Beachtung) He! Du! Wirf das Fernrohr rüber! Hörst du? Ich befehle es dir! Wirf das Fernrohr rüber!

Herold: Das kann ich nicht, Eure Majestät! Ich bin nicht dazu berechtigt.

Freundin: Und ich sage dir, wirf es her!

Herold: Laut dem Erlaß der Urgroßmutter des Väterchen Zaren ist das Fernrohr ein Bestandteil der Berufsausrüstung des Herolds. Allen anderen Sterblichen ist der Zugriff darauf untersagt.

Freundin: Dann verkünde ich einen Erlaß, der es mir auch gestattet, das Fernrohr zu benutzen!

Herold: Euer Erlaß wird aber ungültig sein, wenn er mir nicht durch den Oberkurier zugestellt wird... Mein Gott, was sich da abspielt! Nein, was sich da abspielt! Und Ihr habt den Oberkurier der heimkehrenden Armee entgegengeschickt.

Freundin (fährt endgültig aus der Haut) Ich befehle, daß du einen Kopf kürzer gemacht wirst, Herold!

Herold: Der Henker befindet sich auch im Gebiet der Kampfhandlungen, Eure Majestät! Nein, also seht Euch das nur an! Das ist doch wahrer Heldenmut! Das verstehe ich! Nein, seht es Euch nur an!

Freundin (sieht sich um, sieht um den Hals der Prinzessin ein Fernglas hängen, entreißt es ihr und sieht in dieselbe Richtung wie der Herold) Ich sehe gar nichts. Was ist da los?

Herold: Ihr werdet so auch nichts sehen, Eure Majestät! Ihr haltet ein Beobachtungsinstrument in der Hand, hier aber braucht man ein Fernsichtgerät. Doch laßt den Mut nicht sinken, Eure Majestät! Schon morgen wird man damit beginnen, Memoiren darüber zu verfassen. Es wird nicht einmal ein Monat vergehen, und die Bücher werden erscheinen und in Millionenauflagen verkauft werden. Dann werdet Ihr alles erfahren. Nein, was sich da abspielt!

Freundin: Aber ich will es jetzt wissen. Jetzt gleich!... Agent Prinzessin! Ich ernenne dich zum Henker auf Zeit. Steig sofort auf den Turm, nimm den Herold fest und enthaupte ihn! Und das Fernrohr bringst du mir.

Prinzessin: Zu Befehl, Eure Majestät! Doch das ist leider völlig ausgeschlossen!

Freundin: Warum denn, Agent Prinzessin?

Prinzessin: Weil Euer Erlaß nicht durch den Herold verkündet wurde.

Herold: Und nicht vom Oberkurier zugestellt, Eure Majestät!

Freundin: Ach, dieser Oberkurier! Ohne den kann man aber auch gar nichts machen. Wo ist er?

Herold: Bei der heimkeh...

 

Es erscheint der Diener. Er sieht sehr angeschlagen und müde aus.

 

Diener: Hier bin ich, Eure Majestät!

Freundin: Na, endlich! Wo hast du denn gesteckt? Ich suche dich schon den ganzen Tag!

Diener: Auf Befehl Eurer Majestät war ich im Lager der Truppen unserer heimkehrenden Armee.

Freundin: Und wie steht dort die Dinge?

Diener: Das habe ich nicht geschafft herauszufinden, Eure Majestät. In dem Brief, den ich dem Zaren überbringen sollte, wurde ich als Agent einer feindlichen Macht und Verräter an den Interessen Eurer Majestät und des Väterchen Zaren denunziert.

Freundin: Ich habe dich nicht nach einer Denunziation, sondern nach unserer Armee gefragt!

Diener: Ich weiß es nicht, Eure Majestät! Ich wurde vom Obersten Kriegstribunal zum Tod durch Erschießen verurteilt.

Freundin: Und warum bist du dann noch am Leben?

Diener: Weil die Vollstreckung des Urteils bis morgen ausgesetzt wurde. Die heimkehrende Armee verfügt nämlich über keinerlei Waffen und Munition mehr.

Freundin: Wo sind denn ihre Waffen?

Herold: Das habe ich doch schon verkündet, Eure Majestät! Das Väterchen Zar hat die gesamten Waffen dem König des Nachbarreiches geschenkt.

Freundin: Wie großzügig unser Väterchen Zar doch ist! Er hätte ja wenigstens eine Waffe behalten können... Also gut, Oberkurier... Geh zum Herold und sag ihm...

Diener: Eure Majestät! Ich habe wichtige Neuigkeiten für Euch!

Freundin: Die Neuigkeiten können warten. Geh zum Herold und sag ihm...

Diener: Aber Eure Majestät! Es geht um Leben und Tod!

Freundin (interessiert): Um deins, Oberkurier?

Diener: Um meines, Eures... Mit anderen Worten, um unseres!

Freundin: Du stellst dich mit mir auf eine Stufe? Wie kannst du es wagen, in diesem Ton mit mir zu reden?

Diener: Vergebt mir, Eure Majestät! Ich wollte sagen, ich habe Neuigkeiten mitgebracht, die es erforderlich machen, daß Ihr und ich schnellstens Entscheidungen fällen.

Freundin: Sie machen es erforderlich?

Diener: Jawohl, Eure Majestät.

Freundin: Das ist ja ein Aufstand!

Diener: Genau das ist es, Eure Majestät!

Freundin: Agent Prinzessin! Ich befehle dir, unverzüglich den Herold zu verhaften und wegen des Verdachts auf Verschwörung und Landesverrat zu enthaupten.

Diener: Agent Prinzessin! Als Befehlshaber der Geheimpolizei untersage ich Euch, das zu tun!

Freundin: Agent Prinzessin! Als Ihre Majestät befehle ich dir, gegenüber dem Oberkurier eine der Kampfarten anzuwenden, derer du mächtig bist oder mit einer der Waffen auf ihn zu schießen, die du perfekt beherrschst!

Diener: Agent Prinzessin! Wenn du den Befehl Ihrer Majestät ausführst, entziehe ich dir die kostenlosen Essenmarken für die Kantine des Zaren, alle Prämien und degradiere dich.

 

Herold: Hoho! Sie sind schon ganz nah! Jetzt können sie mich vielleicht hören... (hält das Megaphon an den Mund und schreit) Nieder mit den Blutsaugern, den Feinden des arbeitenden Volkes! Nieder mit Ihrer Majestät, der Verbrecherin und Mörderin! Alle Macht dem Volke! Gleiches Recht für alle! Hurraaaaaaa!

 

Freundin: Was ist das? Wer hat es gewagt? Oberkurier! Verkünde sofort einen Erlaß über die Amtsenthebung des Herolds!

Diener: Dafür ist es zu spät, Eure Majestät. Wenn schon der Herold so spricht, ist es wirklich zu spät.

Freundin: Was heißt das „zu spät“? Kannst du mir das genauer erklären?

Diener: Eine Revolution, Eure Majestät. Ich wollte es Euch ja die ganze Zeit sagen, aber Ihr... Ach, Eure Majestät!

Freundin: Was ist denn eine Revolution?

Diener: Wenn das niedere Volk nicht leben will, wie Ihr es wollt, und wenn Ihr es nicht mehr könnt.

Freundin: Wieso kann ich nicht? Natürlich kann ich.

Diener: Und was könnt Ihr?

Freundin: Ich kann alles! Ich kann Hackfleisch aus dir machen,... aus dem Herold... und aus dem Agenten Prinzessin!

Herold: Sie kommen aber immer näher!

 

Die Geheimen Diener und Minister kommen herausgesprungen, laufen an der Freundin vorbei und legen ihre Aktenordner zu deren Füßen. Der letzte, der ohne Geschäftsbereich, zuckt einfach mit den Schultern und hebt resigniert die Hände. Dann laufen sie alle, einer nach dem anderen, weg.

 

Freundin: Aus den Ministern...

Diener: Hackfleisch, Eure Majestät. Aber wie, auf welche Weise wollt Ihr das bewerkstelligen? Das aufständische Volk hat die Armee zerschlagen, die Gendarmerie ist geflüchtet und –hat sich auf Dachböden und in Kellern versteckt, und die Geheimpolizei hat das Land verlassen und handelt nun en gros und en detail mit Staatsgeheimnissen.

Freundin: Und das Väterchen Zar?

Diener: Das Väterchen Zar hat eine Staatsrente erhalten und wurde zur Erholung in den Süden geschickt.

Herold: Sie kommen immer näher und näher! (schreit ohne Megaphon) Befreit uns von Ihrer Majestät! Hurraaaaa!

Freundin: Was soll ich denn machen?

Diener: Den Ring!

Freundin: Welchen Ring?

Diener: Na, den Ring! Den Zauberring! Den einfachen, nicht aus Gold, nicht aus Silber, nicht aus Platin und ohne Stein.

Freundin: Ach der! Hier ist er!... (an ihrer Hand ist der Ring nicht) Wo ist er denn? (sieht sich um, traurig) Er ist weg...

Prinzessin (zeigt auf den Ring an ihrer Hand): Hier ist er, Eure Majestät!

Freundin: Was denn? Wie denn?

Prinzessin: Fingerfertigkeit, Eure Majestät! Das ist wie bei Kartentricks. Erinnert Ihr Euch, wie wir nachts Karten gelegt haben, und Ihr habt vorausgesagt, Ihr würdet ein süßes Bonbon bekommen. Glaubt also nicht an Weissagungen!

Freundin: Ich glaube auch nicht daran! Gib den Ring her!

Prinzessin: Ich gebe ihn nicht her.

Diener: Gib ihn her!

 

Die Freundin und der Diener stürzen sich auf die Prinzessin. Es kommt zu einem Kampf.

 

Herold: Das Volk rüstet sich zum Angriff auf das Bollwerk des ihm verhaßten Regimes.  Und zur selben Zeit ergehen sich Ihre Majestät und ihre Schergen am Hofe in Zechereien ohne Sinn und Verstand, Exzessen ohnegleichen und sogar in Prügeleien. Das ist es – das wahre Gesicht unserer Herrscher! Schimpf und Schande über sie!

 

Prinzessin (hebt im Handgemenge die Hand mit dem Ring in die Höhe): Ich will... daß alles... so wird... wie vorher!

 

Prinzessin: Wieso liege ich am Boden?... Nun helft mir schon auf die Beine!

 

Der Diener und die Freundin helfen der Prinzessin auf die Beine.

 

Prinzessin (sieht an sich herunter, sieht das Fernglas, das Hörrohr und die Handschellen): Was soll ich denn mit den Dingern? Nehmt sie mir ab! (Die Freundin führt sofort die Aufforderung aus und steckt alles in ihre Tasche. Zu ihr:) Und wieso hast du mein Kleid an?

Freundin: Ach, Eure Hoheit! Ihr selbst habt doch gerade geruht zu sagen, daß Ihr das Kleid einmal von der Seite betrachten möchtet. Und nun habt Ihr es vor Euch. (dreht sich vor ihr) Und, ist es gut?

Prinzessin (skeptisch): Nicht besonders... Hier schlägt es ein paar Falten... Und hier ist es zu eng... (zeigt auf den Orden) Und wozu ist das?

Freundin: Das ist ein Orden, Eure Hoheit! Ich dachte, er paßt gut zu Eurem Kleid...

Prinzessin: Ich mag keine Broschen. Mach ihn ab.

Freundin: Wie Ihr wünscht, Eure Hoheit. (nimmt das Ordensband vom Kleid ab)

Prinzessin: So ist es besser. Willst du ein Bonbon?

Freundin: Ja.

Prinzessin (wirft ihr ein Bonbon vom Tisch zu): Da, nimm. Schmeckt’s?

Freundin: Göttlich, Eure Hoheit!

Prinzessin: Na siehst du – göttlich! Und du hast heute nacht vorausgesagt, daß du ein bitteres Bonbon bekommen würdest. Glaub doch nicht an Weissagungen!

Freundin: Ich glaube auch nicht daran.

Prinzessin: Weissagungen sind Tricks – einfache Fingerfertigkeit, das ist alles.

Freundin: Wirklich, Eure Hoheit, Eure Weisheit ist grenzenlos.

Prinzessin: Noch ein Bonbon?

Freundin: Ich bin Eurer Gnade nicht wert, Eure Hoheit.

Prinzessin: Schon gut. Fang. (wirft ihr ein Bonbon zu)

 

Die Freundin fängt das Bonbon und ißt es mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck.

 

Prinzessin: Geh dich umziehen.

 

Die Freundin geht weg.

 

Prinzessin: Wo sind denn die geheimen Diener?

Diener: Außerhalb der Grenzen unseres Zarenreiches, Eure Hoheit.

Prinzessin: Und was tun sie da?

Diener: Sie ruhen aus, Eure Hoheit.

Prinzessin: Wovon ruhen sie sich aus?

Diener: Von rechtschaffener und weniger rechtschaffener Arbeit.

Prinzessin: Und von welchem Geld, wenn ich fragen darf? Ich habe ihnen doch keinen Sold gezahlt.

Diener: Geheimdiener brauchen keinen Sold. Sie nehmen sich selbst alles, was ihnen in den Sinn kommt.

Prinzessin: Haben sie viel genommen?

Diener: Die ganze Staatskasse unseres Zarenreiches, Eure Hoheit.

Prinzessin (zum Diener): Und wer bist du?

Diener: Ein Diener.

Prinzessin: Aber wo sind denn nun all die anderen? Gerade noch war der Palast voller Bediensteten und voll von allem möglichen Gesinde, und jetzt ist überhaupt keiner zu sehen.

Diener: Aber es sind doch alle fort. Mit Eurem Herrn Papa.

Prinzessin: Mit Papa? Wo ist er denn hin?

Diener: Das ist doch allgemein bekannt: in den Krieg. Er hat sich schon gestern auf den Weg gemacht und hatte Euch suchen lassen, um Euch seinen Entschluß mitzuteilen. Da hat man Euch wohl nicht gefunden.

Prinzessin: Was soll das heißen – „nicht gefunden“? Ich habe ihm doch im Weggehen gesagt, daß wir Mädchen für heute nacht eine Séance geplant hatten, daß wir mit offenen Haaren im Keller sitzen und furchtbare Beschwörungsformeln sprechen wollten, um in die Zukunft zu sehen.

Diener: Und habt Ihr in die Zukunft gesehen?

Prinzessin: Wenn Du wüßtest, was wir gesehen haben! Puuuuhhhh! Da läuft es einem doch gleich kalt den Rücken herunter.

Diener: Ihr Glücklichen! Ich weiß so gar nichts von der Zukunft, lebe immer nur von einem Tag zum anderen. Und Euer Herr Papa auch: gestern abend wurde er irgendwie schwermütig, dachte an Euch, ließ Euch suchen, und auf einmal hat er alle seine Generäle und Heerführer zusammengerufen und ihnen gesagt, daß sie ihn nicht genügend lieben und ihm nicht treu genug dienen. Und sie sagten: „Majestät, wir dienen Euch, so gut wir können. Doch im Moment ist kein Krieg, und wir können unseren Heldenmut nicht unter Beweis stellen. Deshalb seid Ihr unzufrieden.“ Da wurde unser Väterchen Zar so mißmutig, daß ihm fast die Milch im Glas sauer geworden wäre. „Mein Töchterchen“, sagte er, „hat mich verlassen, verbirgt sich vor mir. Und ihr liegt mir auch nur auf der Tasche. Ihr habt nichts zu tun? Ihr werdet was zu tun kriegen.“ Und er befahl allen, von einer Minute auf die andere zu packen und noch in derselben Nacht in den Krieg zu ziehen.

Prinzessin: Aber wieso denn mitten in der Nacht? Hätte er nicht bis zum Morgen warten können? Dann hätten wir uns wenigstens voneinander verabschieden können, wie es sich gehört.

Diener: Aber Ihr kennt doch Euren Herrn Papa. Wenn den der Hafer sticht, gibt es doch kein Halten mehr. Wenn er sich am Abend in den Kopf setzt aufzubrechen, macht er sich mit Einbruch der Nacht spätestens auf den Weg.

Prinzessin: Hat er mir wenigstens einen Zettel geschrieben, damit ich weiß, was ich während seiner Abwesenheit zu tun habe?

Diener: Er hat alles aufgeschrieben, wie es sich gehört. Ist schließlich Euer Vater. Da hat er schon für Euch gesorgt.

Prinzessin: Wo ist denn nun der Zettel? Gib ihn schon her!

Diener: Ich sag doch, er hat alles aufgeschrieben. Um zehn Uhr wird der Herold von dem Turm dort drüben dem ganzen Volk den Willen des Väterchen Zaren verkünden. Dabei wird auch gesagt werden, was Ihr in seiner Abwesenheit zu tun habt.

 

Herold (von seinem Turm herab): Eure Hoheit!

Prinzessin: Meint er mich? Hat mich wer gerufen?

Diener: Der Herold, Eure Hoheit!

Herold: Einen Ring... Habt Ihr nicht vielleicht Euren Ring verloren?

Prinzessin: Was für einen Ring?

Herold: Nicht aus Silber, nicht aus Gold und ohne Stein.

Prinzessin: Ah! Das Geschenk von Großmutter! (sieht auf ihre Hand) Oh! Er ist weg!

Herold: Vielleicht habt Ihr ihn ja bei der Séance verloren? Seht noch einmal genau nach! Wenn ihn nun jemand findet!

Prinzessin: Ja, wirklich! Ich muß ihn suchen! (rennt davon)

Diener (läuft hinterher) Eure Hoheit! Eure Hoheit! Gestattet mir, etwas zu sagen! Ihr habt keinen Oberkurier! Und keinen Koch! Und keinen Obersten Staatsrat! Und keinen Befehlshaber der Gendarmerie... (läuft ihr hinterher)

Herold: Erlaß des Zaren!

Vernehmt alle den Erlaß des Zaren!

Heute nacht haben Wir, Unsere Majestät der Zar, entschieden, daß unsere Schwerter lange genug vor sich hin gerostet sind und daß die Herrscher der angrenzenden Reiche uns nicht mit der uns gebührenden Achtung begegnen und sich bezüglich Unserer Person unziemliche Bemerkungen herausnehmen, daher haben Wir im Namen aller Unserer Untertanen das als Beleidigung Unseres ganzen Volkes aufgefaßt und befehlen:

Zum Ersten: Das Heer hat Uns, dem Zaren, vollständig zu folgen und mit Uns als Heerführer in den Krieg mit unserem Nachbarreich zu ziehen.

Zum Zweiten: Die Prinzessin bleibt im Palast und wird in Unserer Abwesenheit die Geschicke Unseres Landes lenken und im Palast für Ordnung sorgen.

Zum Dritten: Der Prinzessin wird anstelle des Titel „Eure Hoheit“ der Titel „Eure Majestät“ verliehen.

Zum Vierten: Alle treu ergebenen Untertanen haben die Prinzessin bei der Führung der Staatsgeschäfte und der Aufrechterhaltung der Ordnung im Palast nach Kräften zu unterstützen.

Zum Fünften: Nach der siegreichen Beendigung des Krieges und dem Erhalt von Kontributionen des besiegten gegnerischen Volkes versprechen Wir jedem treu ergebenen Untertanen eine ganze Mütze voller Goldmünzen.

Volk (hinter der Bühne ganz begeistert): Hurrrrrraaaaaaa! Kriiiiiiiieeeeg! Es lebe unser Väterchen Zar! Es lebe unsere überaus großzügige Majestät!

Herold (zum Publikum): Und wieder fängt alles von vorn an. Der Ring ist schließlich rund, hat keinen Anfang und kein Ende und rollt und rollt...

 

 

Ende

 

 

Nachbemerkung des Autors:

Dieses Märchen ist das erste, das ich geschrieben habe, seit ich in Deutschland lebe, und es unterscheidet sich von meinen anderen Märchen durch einen noch größeren Pessimismus und dadurch, daß die tragikomische Seite von Anfang an sehr deutlich sichtbar ist.

Die Schauspieler müssen dieses Stück einfach spielen, so wie auf den Theaterplätzen des europäischen Mittelalters gespielt wurde. Es bedarf keiner weisen Deutungen, keiner Versuche, einen Zusammenhang mit den derzeitigen Geschehnissen in Deutschland und Rußland herzustellen. Der Text ist eindeutig und durchschaubar genug, mit überflüssigen Details wäre er leicht zu überfrachten. Der Regisseur sollte die Schauspieler in Bewegung bringen, sie dazu ermuntern, sich auf der Bühne manchmal so freien Lauf zu lassen, als seien sie Schauspielstudenten des ersten Semesters. Je mehr Narretei und Faxen auf der Bühne veranstaltet werden, um so deutlicher wird das zum Tragen kommen, was zwischen den Zeilen steht und die innere Philosophie des Stücks ausmacht.

Es ist aber auch möglich, daß der Autor, was die Umsetzung des Stücks auf der Bühne betrifft, im Irrtum ist. Es gibt Regisseure, denen es gelingt, auch eine Clownerie als weises und tiefgründiges Stück zu inszenieren. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß der Inhalt und der Text des Stückes es gestatten, einige Momente recht frei zu interpretieren, die der Autor nur en passant oder gar nicht erwähnt hat. Daher gebe ich als Autor prinzipiell von vornherein mein Einverständnis für alle möglichen Interpretationen und Improvisationen, für alle möglichen Auslegungen der Figuren, wenn die Figuren dadurch interessanter, attraktiver und vor allem lustiger werden.

Berlin, 07.09.1997

 

 

 

© für die Übersetzung: Carola Jürchott

 

 

Íà ñòð. «Ïüåñû»

 

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