Valerij Kuklin

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Das Zauberbonbon

 

(Miniaturstück für Kinder und ihre Eltern)

 

 

 

Handelnde Personen:

 

1.      Junge

2.      Stimme

3.      Mutter

4.      Papachen

5.      Mann

6.      Frau

 

 

Zeitpunkt und Ort der Handlung: Jederzeit und Überall

 

 

 

V. Kuklin 1995

 

Die Bühne ist völlig dunkel. Das Weinen eines Kindes ist zu hören Ц erst leise, dann immer lauter werdend. Schließlich, wenn das Weinen beginnt, unerträglich zu werden, wird im schwachen Licht ein Junge sichtbar. Er sitzt in der Mitte der Bühne. Der Lichtkreis wird allmählich heller.

аPapachen schläft auf dem Sofa (oder auf Stühlen) hinter dem Sohn, er ist im Halbdunkel schwer zu erkennen, und bis zur ersten Replik sehen all seine Bewegungen wie ein schweigender Hintergrund aus.

 

1.

 

Stimme: Und es kommt der Zeitpunkt, wo die Welt aus den Angeln gerät. Und die Brust sich zusammenzieht. Und die Sonne schwarz leuchtet. Und der Körper sich vor Schmerz krümmt...

Junge: Sei still!

Stimme: ... Und nur ein winziges Etwas Ц irgend etwas ganz Kleines, das nicht einmal durchs Mikroskop erkennbar ist, will leben. Und weinen... Als könnten die Tränen den Schmerz fortspülen...

Junge: Hör auf!

Stimme: Und man möchte alle töten, vernichten. Und diese ganze Welt in ein NICHTS verwandeln.

Junge: Schluß!

Stimme: Ja, ja, die ganze Welt! Das Land! Den Planeten! Das Universum! (einschmeichelnd): Du kannst es tun. Du kannst dieses Nichts machen, als ob... Ich fürchte mich selbst, es mir vorzustellen: Auf einmal rums Ц und danach ab-so-lut nichts!

Junge: Du fürchtest dich? Du?

Stimme: Ja, ich fürchte mich.

Junge: Und ich kann das?

Stimme: Du kannst das. Du kannst noch mehr. Du kannst machen, daß immer nur du allein da warst. Und es hat auf der Welt nie jemand anderen gegeben und es wird nie jemand anderen geben. Es hat keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne gegeben und auch keine Luft, keinen Wind und keine Menschen. Es hat nichts gegeben und wird nie etwas geben...

Junge (mit Sehnsucht in der Stimme): N-n-ei-n...

Stimme: Und es wird keine Dunkelheit und keine Kälte geben.

 

Der Lichtstrahl, der auf den Jungen gerichtet ist, verlischt langsam.

 

Junge: N-n-ei-n...(er hält sich die Ohren zu).

Stimme: Und auch du wirst ein bißchen zu Nichts. Und es gibt keinen Schmerz, keine Enttäuschungen und keine Kränkungen...

 

Gleich wird es dunkel.

 

Junge: Nein! (er läßt seine Ohren los): Nein, nein und nochmals nein!

 

Musik erklingt, fröhliche Stimmen von Menschen sind zu hören. Auf einer Kinoleinwand hinter dem Jungen (eventuell als Schattenfiguren auf weißem Hintergrund) sind Menschen und Tiere fröhlich und ausgelassen.

 

Junge: Das will ich nicht! Sie sollen alle bleiben! Sie sind nicht schuld, daß es mir schlecht geht.

Stimme: Ist das dein Entschluß?

Junge (fest): Ja.

Stimme: Aber du hast das Bonbon doch schon gegessen.

Junge: Und wenn schon.

Stimme: Aber wenn du auf deinen Wunsch verzichtest, geht er nicht in Erfüllung, und du wirst keinen anderen mehr bekommen.

Junge: Ich weiß.

Stimme: Du kannst ihn für keinen anderen eintauschen.

Junge: Ich weiß. Ja. Ich bin einverstanden.

Stimme: Ist das dein letztes Wort?

Junge: Ich habe doch ja gesagt!

Stimme: Dann zähle ich bis drei. Wenn du...

Junge: Ich weiß. Zählen Sie!

Stimme: Eins...

 

Das Licht auf der Bühne wird heller, wodurch der Kreis an den Füßen des Jungen unscharf wird.

 

Stimme: аZwei...

 

Die Geräusche hinter der Leinwand und die Figuren sind verschwunden.

 

Stimme: Drei!

 

Der Junge steht, und Papachen schläft weiter.

 

Junge: Du meine Güte! Ist das beängstigend!

Stimme: Das geht allen so.

 

 

2.

 

Es erscheint die Mutter.

 

Mutter: Hast du dir schon wieder das Hemd zerrissen? Ich könnte dich ... ! Nichts kann man dir anzuziehen geben! Wo soll ich das denn alles hernehmen? Als ob ich nicht schon genug Scherereien hätte! (will ihn schlagen, haut aber nicht zu). Prügeln müßte man dich!

 

Der Junge zuckt in Erwartung des Schlages erschrocken zusammen. Papachen erwacht und räkelt sich trunken.

 

Mutter: Na, wo soll ich das wieder kaufen? Begreifst du wenigstens, was du angerichtet hast?

Junge (niedergeschlagen): Begreif ich.

Mutter: Gar nichts begreifst du! Ohrfeigen müßte man dich Nichtsnutz! (holt aus, schlägt aber wieder nicht zu): Geh mir aus den Augen!

 

Der Junge kriecht hinter die Rückenlehne des Sofas. Papachen findet eine Weinflasche, setzt sie an, trinkt und kommt langsam auf die Beine. Seiner Frau hört er nicht zu.

 

Mutter (zum Publikum gewandt): Was für ein Schwachkopf wächst da heran... Ständig frißt er was neues aus. Mal ist es das Hemd, mal die Hose, dann wieder die Schuhe. Und dreckig macht er sich Ц ich komme mit dem Waschen schon gar nicht mehr hinterher. Andere haben normale Kinder. Und was habe ich? Ich hab ihn Geschirr abwaschen lassen Ц schon hat er eine Tasse zerschlagen. Den Fußboden sollte er schrubben Ц die Pfütze danach war so groß, daß man Schiffe darauf hätte fahren lassen können. Bloß gut, daß wir parterre wohnen, so ist es nur in den Keller gelaufen. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch mit ihm machen soll.

 

3.

 

Papachen: Hast Du wieder nichts zu futtern gekocht? Da arbeitet man wie ein Verrückter, schafft das Geld heran und sie wirftТs auf irgendwelchen Flohmärkten für Klamotten zum Fenster raus! Und zu Hause gibtТs nicht mal irgendwelche vergammelte Wurst... Na, was reißt du das Maul auf? Als ob du mich noch nie gesehen hättest!

Mutter (wischt ein Weinglas aus, hält es gegen das Licht und ist mit dieser Tätigkeit überaus beschäftigt): Hätte ich dich bloß nie gesehen!

Papachen а(sieht sich, den Sohn suchend, um und entdeckt ihn hinter dem Sofa versteckt): Na siehst du? Sagt, sie hätte mich nie sehen wollen. Weißt du eigentlich, was das heißt? Das heißt, dich würde es gar nicht geben. Kapiert? Nein? Ich werdТs dir erklären.

Mutter: Halt lieber den Mund, du Erklärer. Geh essen.

Papachen: Nein, nein, warte. Ich erklär es ihm.

Mutter: Was willst du ihm erklären? Wo die Kinder herkommen? Das weiß er auch allein. Geh essen.

Papachen: Das weiß er allein, sagst du? Woher denn? Wer hat es ihm gesagt? Du?

Mutter: Geh essen, sag ich! Wer hat es ihm erzählt, wer hat es ihm erzählt...

Stimme: Ich hab es ihm erzählt.

 

Papachen geht langsam zur Mutter, legt ihr die Hand auf die Schulter.

 

Papachen: Weißt du, was ich mir am allermeisten wünsche? Am allermeisten auf der Welt? Wenn das in Erfüllung gehen würde, brauche ich nichts anderes mehr...

Mutter (nimmt die Hand von ihrer Schulter, wischt weiter das Glas aus): Schon gut Ц hau ab. Iß endlich.

Papachen: Nein, ehrlich... Weißt du, was ich mir am meisten wünsche?

Mutter: Schlaf dich erstmal aus. Morgen früh sehen wir weiter.

Papachen: Nein... du wirst es nie verstehn... Was verstehst du denn? (geht ab)

 

Die Mutter setzt sich auf das Sofa, nimmt ihre Strickarbeit, die vorher unter dem Kopf ihres Mannes gelegen hatte und bleibt im Hintergrund des Sohnes, der wieder mit der Stimme allein ist.

 

4.

 

Stimme: Du kannst ihm dein Bonbon geben.

Junge: Aber ich habe es aufgegessen.

Stimme: Du hast es nicht benutzt. Du kannst es, wenn du willst, irgendwem abgeben.

 

Der Junge greift in seine Hosentasche und holt ein großes Bonbon hervor.

 

Junge: Kann ich nicht zwei abgeben? Für jeden eins?

Stimme: Nein. Das Bonbon gibt es nur einmal. Wo zwei sind, sind viele, und wo viele sind, gibt es keine Zauberkraft.

Junge: Und wenn ich es... halbiere? (er versucht, das Bonbon durchzubrechen)

Stimme: Ein halbes Wunder ist kein Wunder, Kleiner. Es gibt nur ein Bonbon.

 

а

5.

 

Mutter: Was hast du da? Ein Bonbon? Hab ichТs doch gewußt. Vor dir kann man aber auch nichts verstecken. Du bist ein richtiger Sherlock Holmes! GibТs her! (nimmt ihm das Bonbon weg): Ersticken sollst du dran! Ist denn das zu glauben! Wo hast du bloß den Schrankschlüssel gefunden? (wickelt das Bonbon aus und steckt es mit einer mechanischen Bewegung in den Mund): Gauner unglückseliger! Das hatte ich doch für Gäste aufgehoben! Wenn jetzt wer kommt, habe ich nichts, was ich zum Tee anbieten kann.

Junge (lächelt glücklich): Sie hatТs gegessen!

Mutter: Na, was reißt du die Gusche auf? Warum du grinst, frage ich! Was hast du nun wieder angestellt?

Junge: Mama, weißt du was? Wünsch dir irgend etwas! Na, wünsch dir was!

Mutter: Was soll ich mir da jetzt ausdenken? Ist das ein Spiel oder was?

Junge: Nein, Mama, das ist kein Spiel. Das ist echt! Wünsch dir was! Das Allerwichtigste! Irgendwas, das... ! Na, du wirst es schon selber wissen...

Mutter: Ich versteh nicht ganz... Das Allerwichtigste... Na ja, einen Wollpullover möchte ich, einen neuen Rock. Und Schuhe für dich. Vater könnte einen guten Anzug gebrauchen.

Junge: Aber nein, Mama, das ist es nicht. Das ist nicht das Allerwichtigste. Ich meine etwas anderes.

Mutter: Das ist für dich nicht wichtig. Du kriegst ja immer alles vorgesetzt. Dein Hemd hast du auch schon wieder zerrissen. Das Wichtigste für dich ist, über Zäune zu klettern und deiner Mutter Scherereien zu machen. Also gut. Ich gehe abwaschen. (geht ab)

 

 

6.

 

Junge: Es hat nicht geklappt...

Stimme: Sie hat einfach keine Zeit.

Junge: Sie hat nie Zeit.

Stimme: Es hat sich nun mal so ergeben...

Junge (hält sich die Ohren zu): Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!

 

Grelles, buntes Wetterleuchtenа in absoluter Stille. Von zwei Seiten kommen ein Mann und eine Frau.

 

 

7.

 

Frau (einschmeichelnd): Guten Tag, mein Junge.

Mann (munter): Grüß Dich, Kumpel!

 

Sie bemerken einander nicht.

 

Mann: Laß uns von Mann zu Mann reden. Geht das?

Junge: Es geht.

Frau: Was für ein guter Junge. (streicht ihm über den Kopf): Wie alt bist du?

Junge: Sieben.... Siebeneinhalb.

Frau: Und ich habe gedacht, du wärst schon zehn. So groß und selbständig, wie du schon bist...

Mann: Kommen wir also gleich zur Sache.

Frau: Hast du aber Muskeln! Laß mich mal deine Muskeln fühlen! Oooh, bist du aber stark!

Mann: Du hast was zu verkaufen. Und ich kann es kaufen. Geht das?

Frau: Solche Jungs wie du sind unsere Zukunft!... Unsere lichte Zukunft!

Mann: So... Laß uns am besten gleich über den Preis reden...

Frau: Und dabei gibt es so viele unglückliche Kinder... (sie spricht, und hinter ihr nehmen gesunde, wohlgenährte Kinder mit Spendentöpfen um den Hals und folgenden Aufschriften Aufstellung: УWaisenФ, УBehinderteФ, УHungerndeФ usw. Nach jedem Wort gehen sie unter ihrer Hand durch, die ihnen über die Köpfe streicht, und setzen sich entlang der Vorbühne in eine Reihe) Krüppel, Waisen. Sie haben eine sehr schwere Kindheit. Weißt du das?

Junge: Ich weiß.

Mann: Dann sind wir uns also einig. Sag mir den Preis! Nun?

Frau: Und sie alle brauchen Hilfe. Deine Hilfe. Die Hilfe eines starken Menschen für einen schwachen.

Junge: Ich weiß nicht... Sagen Sie, was brauchen Sie?

Mann und Frau (zusammen): Das Bonbon!

Mann: Ich zahle jeden Preis!

Frau: Im Namen der Menschenliebe!

Mann: Ich kann auch in Naturalien zahlen: ein Haus, ein Grundstück, ein Auto, eine Jacht Ц alles deins!

Frau: Die unglücklichen Kinder! Die Alten! Die Behinderten! Die Kriegsopfer!

Mann: Du hast fürs ganze Leben ausgesorgt! Da bleibt sogar noch was für deine Enkel!

Frau: Die Tränen der Waisen.

Junge: Aber ich kann doch nicht...

Frau: Die Tränen der Mütter!

Junge: Ich habe ja nichts dagegen. Ich...

Frau (sieht auf einmal den Mann): Erlauben Sie! Wer sind Sie?

Mann: аUnd du? Du hast hier doch vorher nicht gestanden!

Frau: Ich bin die Wohltätigkeit!

Mann: Geschenkt.

Frau: Die Kinder sind Waisen!

Mann (zückt sein Scheckheft): Verkauft.

Frau: Invaliden!.. Rentner!.. (nach jedem Wort flattert ein Scheck zu ihren Füßen) Opfer des Völkermords!.. Der Bürgerkriege!... Von Erdbeben Betroffene!... Wunderkinder!.. Die Wissenschaft!.. Die Kunst!.. Das Gesundheitswesen!.. Die Bildung!.. (sie steigert sich in die Suche nach weiteren Bedürftigen hinein) Diese... wie heißen sie?

Mann (unterschreibt einen Scheck und reicht ihn ihr galant): Und das ist für Sie persönlich.

Frau (schaut auf den Scheck, reißt die Augen auf und macht einen Knicks): Ich bin Ihnen zutiefst verbunden (entfernt sich eilig und läßtа die übrigen Schecks auf dem Fußboden liegen).

 

 

8.

 

Mann (sammelt die Schecks vom Fußboden auf): So, junger Mann, kommen wir also auf unsere Frage zurück. Wieviel?

Junge: Ich verstehe nicht. Was wollen Sie?

Mann: Du bist doch ein geschäftstüchtiges Bürschchen. Ich seh dir doch an, daß du weißt, wie man das große Geld macht. Eine Million. Abgemacht?

Junge: Eine Million.

Mann: аJa. Eine Million. In jeder beliebigen Bank der Welt.

Junge: Eine Million Ц ist das viel?

Mann: Na, du bist mir vielleicht einer! Na gut, dann also zwei Millionen. Abgemacht?

Junge: Ich weiß nicht... (ruft) Mama!

Mann (eilig): Drei... fünf... zehn... Zehn Millionen! Zehn!

Junge: Ich weiß nicht. Ich frag meine Mama.

Mann: Deine Mama kann warten. Ich habe doch gesagt, das wird ein geschäftliches Gespräch. Du gibst mir das Bonbon, und ich gebe dir zwanzig Millionen. Abgemacht?

Junge (versteckt die Hände hinter seinem Rücken): Ich kann nicht.

Mann: Also gut... Fünfzig Millionen. Mehr geht nicht. Mehr habe ich nicht... Verstehst du? Da bleibt nur noch ein bißchen Kleingeld übrig, das ist alles. Da siehst du, wie sehr ich das Bonbon brauche.

Junge: Ich habТs nicht.

Mann: Gut. Ich weiß, wo ich mir was borgen kann... Also noch hundert Millionen drauf. Das macht zusammen hundertfünfzig. In Ordnung?

Junge: Aber ich habe es nicht. Ich habe das Bonbon nicht.

Mann (mit echtem Respekt): Na, du bist gut! Du nimmst es ja von den Lebendigen. Gut Ц eine Milliarde! Aber nicht gleich alles auf einmal, in Raten! Auf einmal wirst du das von niemandem bekommen. Ich gebТs dir innerhalb einer Woche... Also was ist... abgemacht? Machen wir einen Vertrag mit allem drum und dran Ц Essen, Mädchen und so weiter.

Junge: Nein, Onkel. Ich habe das Bonbon nicht. Ich hab es weggegeben.

Mann (verschluckt sich beim Reden): Du hast was? Es weggegeben?

Junge: Ja, weggegeben.

Mann: Wem? Für wieviel?

Junge: Einfach so.

Mann: Einfach so?!

Junge: Natürlich.

Mann (setzt sich langsam auf den Boden): Für nichts und wieder nichts...

Junge: Es ist doch mein Bonbon, oder?

Mann (spöttisch lächelnd): аEs ist deins.

Junge: Ich kann es verkaufen, wenn ich will, ich kannТs aber auch verschenken, wenn ich will.

Mann: Und wem hast du es... geschenkt?

Junge: Meiner Mama.

Mann (atmet erleichtert auf): U-u-fff! Und ich hatte schon gedacht, du hättest es wirklich... (erhebt sich vom Fußboden, zieht ein Funktelefon aus der Hosentasche): Sucht mir die Mutter! Ein bißchen plötzlich! Sie hat das Bonbon.

Junge (fröhlich): Und ob sieТs hat!

Mann: Natürlich hat sieТs! (klopft sich an die Hosentasche) Mütter sind kluge Frauen. Sie können Dinge aufbewahren.

Junge: Und ob sie das können! (klopft sich auf den Bauch)

Mann: Ach, du kleines Dummerchen! (klopft sich auf die Hosentasche) Wo ist sie denn nun?

Junge: Wer?

Mann: Deine Mutter!

 

 

9.

 

Jemand stößt die Mutter mit Gewalt auf die Bühne.

 

Mutter (zum Sohn): Was stehst du hier herum? Hast wohl nichts zu tun, was? Ich werd schon eine Arbeit für dich finden! WartТs nur ab!

Mann: Beeindruckend!

Mutter (mißtrauisch): Reden Sie mit mir?

Mann: Toll!

Mutter: Worum gehtТs?

Mann: Was für eine Direktheit! (geht um sie herum und erfreut sich an ihr wie an einem Schaufenster) аWas für Formen! Einfach perfekt!

Mutter (mißtrauisch): Meinen Sie nicht, Sie nehmen sich etwas zu viel heraus?

Mann: Aber nein! Ich kann meine... Bewunderung nicht in Worte fassen!

Mutter: Ich bin verheiratet.

Mann: Ach, der Glückliche! Wer ist es denn?

Mutter: Hier, der Vater von dem da... (deutet mit dem Kopf auf den Jungen)

Mann: Und was sagt er über die unglaubliche Schönheit Ihrer Ohrmuscheln?

Mutter: Was? Welcher Muscheln?

Mann: Göttlich! Der Ohrmuscheln natürlich! Sagen Sie nicht, er wüßte sie besser zu würdigen als ich. Oder... Machen Sie mich mit ihm bekannt. Ich werde ihm ein Exemplar zeigen...

Mutter (empört): Ein Exemplar?

Mann: Er wird sich alle zehn Finger danach lecken. Natürlich kein Vergleich zu Ihren... Sie sind deutlich..., ach was sage ich..., um Längen besser!

Mutter (seine Worte schmeicheln ihr, doch sie kokettiert): Sie meinen also, ich habe zu lange Ohren?

Mann: Wo denken Sie hin? Ihre Ohren gleichen... dem Klang eines Liebesliedes über den Weiten des Flusses!

Mutter (ihr gefällt das): Wieso über den Weiten?

Mann: Weil es weithin zu hören ist. Und was für ein reiner Klang! Wie eine Träne!

Mutter: Sie reden so eigenartig.

Mann: Wie Ihr Mann. Wir haben dieselben Vorlieben.

Mutter: Aber er hat mir noch nie gesagt...

Mann (fährt an ihrer Stelle fort): ...was Sie für schöne Ohrmuscheln haben? Das hätte er aber tun sollen! Wahrscheinlich hat er es aus Bescheidenheit nicht getan.

Mutter (lacht glücklich): Aus Bescheidenheit? Er?

 

Hinter der Bühne tönt der trunkene Gesang des Vaters hervor: УEs gibt kein Bier auf HawaiiФ

 

Mann: Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß ich... (stockt bei der Vermutung) Nein, nein! Sie schmeicheln mir! Das kann doch nicht sein!

Mutter: Ja. Sie sind der Erste. Und sehen Sie mich nicht so an. Das macht mir angst.

Mann (fällt vor ihr auf die Knie, umarmt ihre Beine): Sie Göttin!

 

Die Bühne verdunkelt sich. In einem hellen Kreis bleibt nur derа Junge stehen.

 

 

10.

 

Stimme: Die Kinder müssen nicht zusehen, wie sich die Ereignisse weiter entwickeln, und die Erwachsenen wissen es ohnehin...

Junge: Aber Mama weiß nicht, daß es ein Zauberbonbon ist.

Stimme: Sie wird es bald erfahren.

 

11.

 

Grelles Licht auf der Bühne. Die Mutter und der Mann zupfen ihre Kleidung zurecht.

 

Mutter (besorgt): Ein Bonbon?.. Aber nein, er hat mir nichts gegeben. Und außerdem kaufe ich die Bonbons. Wo sollte er das Geld her haben?

Mann: So ein ungewöhnliches, wissen Sie, ein besonders schönes... Also, man könnte sagen, ein nicht ganz gewöhnliches Bonbon war es, das er hatte.

Mutter (ruft): Sööööhn-chen!

Junge: Ja, Mama.

Mutter: Hast du dem Onkel ein Bonbon weggenommen? GibТs ihm zurück!

Mann: Nein, das war nicht mein Bonbon. Es war seins. Er hat es dir... also Ihnen gegeben.

Mutter: Seltsam. Ich verstehe das irgendwie nicht. Irgendein Bonbon. (zum Sohn) Woher hast du das Bonbon? Aus dem Schrank?

Mann: Nicht er hat es Ц Sie haben es. Er hat es Ihnen gegeben.

Mutter: Er hat mir nichts gegeben.

Mann: Er hat Ihnen nichts gegeben?.. (dreht sich zu dem Jungen um) Warum belügst du mich?

Junge: Aber Mama, erinnerst du dich nicht mehr?а Ich hab es so gehalten (zeigt, wie es gewesen ist). Du hast es genommen, ausgewickelt...

Mutter: Ach, das! Und ich hab mich schon gewundert! Irgend so ein blödes süßes, klebriges Zeug! Ich hab es nicht einmal richtig gekostet.

Mann: Du hast es also A U F G E G E S S E N ?

Mutter: Ja, hab ich. Was ist denn los?.. (lächelt) Komm, gib mir einen Kuß... auf die Ohrmuschel... (hält ihm ihr Ohr hin, damit er es küßt).

Mann (hebt die Hände zum Himmel): Sie hat es aufgegessen!

Mutter (zieht gekränkt einen Schmollmund): Warum gibst du mir keinen Kuß?

Junge: Dieser Onkel wollte mir eine Milliarde für das Bonbon geben.

Mutter (lächelt): Blödsinn. Der Onkel hat nur Spaß gemacht... (umschlingt mit ihren Armen den Mann, schmiegt sich mit ihrem ganzen Körper an ihn) Eine Milliarde... für ein Bonbon?! Dummerchen!

Mann (befreit sich grob aus ihrer Umarmung): Dumme Kuh!

Mutter: Was?

Mann: Du hast es aufgegessen. A U F G E G E S S E N!

 

Die Mutter streckt immer noch die Arme nach ihm aus und begreift nicht, warum sich seine Haltung ihr gegenüber so plötzlich geändert hat. Der Mann sieht sie angewidert an und bemüht sich, ihrer Berührung zu entgehen.

 

Mann: Leb wohl, du dumme Gans! Und du... verrückter Grünschnabel!

Mutter: Was heißt hier УGansФ?! Und was ist mit dem Lied? Über dem Fluß?

Mann: Scher dich doch zum Teufel mit deinem Lied!

 

Der Mann geht fort.

 

 

 

12.

 

 

Mutter: Nichtsnutz! Fiesling! Schuft! (weint)

Junge (geht zu ihr, schmiegt sich an sie, tröstet sie): Mach dir nichts draus, Mama. Er ist kein guter Onkel...

Mutter: Wer ist er? Ein Bekannter von dir? Ein Freund?

Junge: Und für dich?

Mutter (wütend): Was willst du damit sagen, he? Was soll das heißen?

Junge (erschrocken): Nichts. Ich hab nur gefragt.

Mutter: Aber du... Er ist doch zu dir gekommen, oder? War es nicht so?

Junge: Ja, Mama.

Mutter: Weshalb?

Junge: Wegen dem Bonbon.

Mutter: Wegen welchem Bonbon? Was macht ihr mich eigentlich alle wuschig mit diesem Bonbon? Wo ist es?

Junge: Du hast es aufgegessen.

Mutter: Wieso kommst du mir laufend mit diesem Bonbon? Soll es doch zur Hölle gehen!

 

Es donnert, das Licht verlischt, in einem hellen Kreis bleibt der Junge allein zurück.

 

 

13.

 

Stimme: Es ist in Erfüllung gegangen!

Junge: Nein, bitte nicht!

Stimme: Aber sie hat es sich aufrichtig gewünscht. Viel stärker als alles andere vorher.

Junge: Trotzdem soll es so nicht sein. Ich bitte Sie!

Stimme: Gut. Wie du willst. Aber das Bonbon hole ich aus ihr heraus.

Junge (verschreckt): Aus ihrem Inneren?

Stimme: Ja.

Junge: Bit-te niiicht!

 

Es donnert wieder, doch die Bühne wird hell.

 

 

14.

 

Mutter (verwundert, mustert sich eingehend):а Was war das? Ich verstehe nicht. Wo war ich?

Junge: Schon gut. (freut sich, will vor Glück loslachen, traut sich aber nicht, seine Freude zu zeigen) Ist alles in Ordnung?

Mutter: Hast du nichts gesehen?

Junge: Nein.

Mutter: Gar nichts?

Junge: Gar nichts. Wieso?

Mutter: Wirklich überhaupt gar nichts?

Junge: Überhaupt gar nichts.

Mutter: Das heißt... ich habe mir das nur eingebildet?.. (wischt sich mit der Hand die Stirn) Irgendwie ist heute ein eigenartiger Tag. (geht ab) Ich werde etwas einnehmen... So ein Blödsinn...

 

Die Mutter аgeht. Der Jungeа ist allein auf der Bühne.

 

 

15.

 

Junge (öffnet die Faust, in seiner Hand befindet sich das Bonbon): Es ist schon wieder bei mir? Warum? (keine Antwort) Ich will nicht!.. (läßt das Bonbon behutsam zu Boden gleiten) Bitte nehmen Sie es!

 

 

16.

 

Ein Mann erscheint. Es ist wieder derselbe. Er schleicht, in seinem Gesicht ist Arglist erkennbar.

Mann: Na, wo ist es denn, dein...

Junge (zeigt auf das Bonbon): Da.

Mann: ...dein Mütterlein. Nicht das Bonbon.

Junge: Sie kommt gleich. Sie nimmt nur ihre Medizin ein, und dann kommt sie.

Mann: Hierher?

Junge: Ja.

Mann (tritt an den Jungen heran, faßt ihn um die Schultern): Hör mal, Kumpel, nimmТs mir nicht übel.

Junge: Was denn?

Mann: Daß... na, unwichtig. NimmТs mir einfach nicht krumm.

Junge: Gut, ich nehme es nicht übel.

Mann: So ist es gut!.. (klopft ihm auf die Schulter) Sag mal, meinst du nicht, daß ich etwas grob zu ihr war?

Junge: Doch, meine ich.

Mann: Aber wir beide verstehen das doch und bügeln das wieder aus.

Junge: Wieso wir?

Mann: Na, wir beide sind doch ganze Kerle, stimmtТs?

Junge: Wahrscheinlich.

Mann (nachdenklich): Und sie ist eine Frau. Sie muß doch auch Verständnis haben, stimmtТs?

Junge: Verständnis wofür?

Mann: Oooooh! Frauen Ц die haben für alles mehr Verständnis als wir. Das sind ja solche Luder!.. (er merkt selbst, daß er nicht das Richtige sagt, sucht nach Worten, doch seine Gedanken sind verworren, er hat kein Interesse für das Kind und redet nur, um die Wartezeit zu verkürzen) Wie alt bist du eigentlich?

Junge: Sieben...einhalb.

Mann: Na, siehst du... du bist schon groß... verstehst alles. Ist deine Mutter für länger weggegangen?

Junge: Ich weiß nicht. Ihr ist schlecht geworden.

Mann: Natürlich ist ihr schlecht. Das verstehe ich. Nach so einem Schlag.

 

 

17.

 

Die Mutter erscheint.

 

Mann (stürzt auf sie zu): Liebste!

Mutter (kühl): Reden Sie mit mir?

Mann (kniet vor ihr nieder): Vergib mir! Ich war nicht ich selbst!

Mutter: Was ist das Ц wieder ein neuer Trick? Oder der, den Sie noch nicht probiert haben?

Mann: Es war eine Umnachtung! Ich wußte nicht, was ich tat!

Mutter (interessiert): Eine Umnachtung? Bei dir auch?

Mann: Ja, eine Umnachtung! Anders kann man es nicht bezeichnen!

Mutter (preßt die Hände vors Gesicht): Bei mir auch... weißt du... auf einmal war alles dunkel...

Mann: Ich weiß, ich weiß, mon amour! (umarmt ihre Beine)

Mutter: Ich habТs gewußt. Ich habТsа immer gewußt, daß mir so was passieren würde. So was... Übersinnliches!

Mann: Genau! Etwas Übersinnliches! Das ist einfach entzückend! Deine Ohrmuscheln!

Mutter: Nein, das meine ich nicht. Ich meine das, was mit mir passiert ist. Mit mir, mit uns...

Mann: Ja, du meine Augenweide! Das war die Liebe!

Mutter: Diese Umnachtung! Und das war wie ein Donnerschlag! Eichfach unheimlich.

Mann: Was für ein Schlag? Ich verstehe nicht... (wendet sich an den Jungen) Ich habe sie nicht geschlagen. Das hast du doch gesehen.

Junge: Ich habe es gesehen.

Mann: Ich verstehe nicht.

Mutter: Aber warum denn nicht? Es war wie bei dir. Erst die Umnachtung, und dann das... Ja, kann man das denn mit Worten beschreiben?

Mann: Wann?

Mutter: Na, als du weggegangen warst. Und ich habe es mir so gewünscht! So sehr gewünscht!

Mann (verzweifelt): Du hast es dir gewünscht? Wirklich richtig gewünscht?

Mutter: Ich habe es mir so sehr gewünscht! Ich war schon ganz außer mir.

Mann (hysterisch): Du hast es dir gewünscht?! Ein Fluch! Ein Fluch soll dich treffen! Du hättest sonstwas machen sollen, aber dir nichts wünschen!

Mutter: Warum? Was hast du? Ist dir nicht gut?

Mann: Du durftest das nicht tun! Du durftest es nicht! Begreifst du das nicht? Du durftest dir nichts wünschen! Du hättest auf mich warten müssen!

Mutter: Wieso hätte ich auf dich warten sollen? Du warst doch gegangen!

Mann: Dann bin ich eben gegangen. Aber ich bin wiedergekommen. Hättest du also nicht warten können?

Mutter: Worauf hätte ich warten sollen? Du hast mich eine dumme Gans genannt, und ich...

Mann: Was habe ich nicht alles zusammengefaselt, vomа Fluß und von deinen Ohrmuscheln... Hättest du gewartet, hätte ich aus dir eine Königin... Ach, was heißt hier Königin?! Wir hätte so viel zusammen geschafft, daß alle Kaiserinnen der Welt vor Neid geplatzt wären!

Mutter: Moment mal. Ganz langsam... Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Erklär mir alles von Anfang an und der Reihe nach.

Mann (sitzt erschöpft auf dem Boden und schüttelt den Kopf): Was ist da noch groß zu erklären... Es ist alles verloren! Alles verloren!

Mutter: Nun fang schon an. Also du bist weggegangen und dann...

Mann: Zuerst einmal bin ich gekommen.

Mutter: Von mir aus auch das. Zuerst bist du gekommen... (zeigt auf ihren Sohn) Zu ihm. Dann hast du mich gesehen. Weiter.

Mann: Was hast du damit zu tun? Ich bin wegen dem Bonbon gekommen.

Mutter: Ich habe also nichts damit zu tun. Gut, dazu kommen wir später. Du bist wegen dem Bonbon gekommen. Und dann? Was war dann, frage ich dich!

Mann: Dann hat er gesagt, daß er dir das Bonbon gegeben hat.

Mutter: Und du...

Mann: Ja. Und ich habe alles dafür getan, daß du mir das Bonbon gibst. Entschuldige, aber ich habe es dringend gebraucht.

Mutter: Verstehe. Weiter.

Mann (steht auf, klopft sich den Staub von den Sachen): Und dann kam heraus, daß du das Bonbon schon aufgegessen hast, und ich habe in die Röhre geguckt.

Mutter: Und da bist du gegangen.

Mann: Ja, ich bin gegangen. Und dann habe ich mir überlegt, daß noch nicht alles verloren ist, wenn du dir nicht richtig was gewünscht hast. Ich hätte mit dir reden können, es dir erklären, deine Gedanken in die richtige Richtung lenken. Und dann hättest du dir genau das Richtige gewünscht.

Mutter: Moment! Ich verstehe das alles immer noch nicht. Was hatte das Bonbon damit zu tun? Und was für Wünsche? Was willst du eigentlich?

Mann: Jetzt nichts mehr...

 

Der Mann ist auf einmal gramgebeugt und bleich und ausgemergelt und geht.

 

 

18.

 

Junge: Mama, er wollte das Bonbon.

Mutter: Das habe ich gehört. (geht zu ihrem Sohn, richtet seine Kleidung, streicht ihm sanft über die Haare und sieht selbst in die Richtung, in die der Mann gegangen ist) Wozu braucht er es denn?

Junge: Es ist ein Zauberbonbon.

Mutter: Wie denn? Ein Zauberbonbon?

Junge: Wenn man es ißt und sich etwas ganz doll wünscht, geht der Wunsch in Erfüllung.

Mutter (müde): Junge, Junge. Du hast zu viele Märchen gelesen.

Junge: Nein, Mama. Es stimmt. Ich wollte es selbst essen. Aber das darf ich nicht. Ich wollte es Papa geben.

Mutter (sieht immer noch in dieselbe Richtung, gleichgültig): Warum?

Junge: Weil ihr erwachsen seid!

Stimme: Erwachsen...

Mutter: Na und?

Stimme: Erwachsen...

Junge: Das ist kein Märchen, Mama. Das ist echt.

Mutter: Man ißt es, und ein Wunsch geht in Erfüllung?

Junge: Ja, man muß es sich nur stark genug wünschen.

Mutter: Und ich habe mir was gewünscht?

Junge: Nein, Mama. Du hast es dir nicht gewünscht. Du hast es nur... (sucht nach dem passenden Wort)

Mutter: Gebraucht?

Junge: Ja, gebraucht. Kleidung, Schuhe, Geld. Das ist es nicht. Das ist nicht das Wichtigste.

Mutter: Und was ist das Wichtigste?

Junge: Ich weiß nicht.

Stimme: Für jeden etwas anderes.

Junge: Wahrscheinlich für jeden etwas anderes.

Stimme: Und für alle dasselbe.

Junge: Und für alle dasselbe.

 

 

19.

 

Papachen erscheint.

 

Papachen: Hier seid ihr? Und ich sitze allein da und esse. Würge die Bissen herunter, und sie wollen nicht rutschen. Was ist denn das für ein Familienleben?

Mutter: Für dich besteht das Familienleben ja nur aus Essen.

Papachen: Was hast du denn gedacht? Wenn alle zusammen essen, hält auch die Familie zusammen. Wenn jeder allein ißt, das ist doch keine Familie. Das ist eine...

Stimme: Herde.

Junge: Herde.

Papachen: Genau! Recht hast du! Gib mir fünf! (klatscht mit der Hand auf die ausgestreckte Hand des Sohnes) Kluges Köpfchen!

Mutter: Auf jeden Fall wird er mal gescheiter als du, du elender Trunkenbold!

Papachen: Wieso? Davon leben wir doch. Oder weißt du vielleicht was BessТres? (zieht die angefangene Flasche aus der Tasche) Darin steckt Wahrheit und Ruhe! (küßt die Flasche) Du meine Herzallerliebste!

Mutter: Siehst du. Dann hast du vorhin also sie gemeint.

Papachen (stumpfsinnig): Wann?

Mutter: Du hast gesagt, daß du es dir wünschst, richtig wünschst, mehr als alles andere.

Papachen: Ich? (aufrichtig erstaunt) Ich soll das gesagt haben?

Mutter: Hast du. Und unser Junge hier hat es auch gehört.

Junge: Ja, Papa.

Papachen (zu seiner Frau): Und du?

Mutter: Was Ц ich?

Papachen: Was hast du geantwortet?

Mutter: Ich habe dir zu essen gegeben, das war meine Antwort.

Papachen (leicht verwirrt): Was hat denn das Essen damit zu tun? Ich hatte mir doch gewünscht...а (überlegt, fährt mit unerwartet eindringlicher Stimme fort) etwas ganz Wesentliches habe ich mir gewünscht.

Mutter: Und essen ist für dich nun mal was ganz Wesentliches.

Papachen (schüttelt den Kopf): N-e-i-n!

Mutter: Seit wann?

Papachen: Essen ist nicht wesentlich. Essen ist, weil ich von dir nichts anderes bekomme. (hebt den Zeigefinger) Aber das Wesentliche!..

Mutter: Na, was ist für dich das Wesentliche? SagТs schon!

Junge (hält dem Vater das Bonbon hin): Nimm, iß es!

Mutter: Ja, ja. Iß es auf!

Papachen: Das Wesentliche... (greift mechanisch nach dem Bonbon, wickelt es aus und steckt es in den Mund) Das Wesentliche... (greift sich verzweifelt an den Kopf) Ich weiß es nicht mehr!.. Ich habТs vergessen!.. Aber ich habe es doch immer gewußt! Mein ganzes Leben lang hab ichТs gewußt! Selbst, wenn ich getrunken habe, hab ichТs gewußt. Deshalb hab ich ja getrunken, weil ichТs gewußt habe und nichts dafür getan habe. Aber gewußt hab ichТs immer! Ich habТs gewußt!

Junge (streichelt seine Hand, tröstet ihn): So beruhige dich doch. Es wird dir schon wieder einfallen. Du mußt dich nur beruhigen.

Papachen: Ich habТs doch aber gewußt! Ich habТs gewußt!

Mutter: Gar nichts hast du gewußt!

Papachen: Nein, ich habТs gewußt! Immer hab ichТs gewußt! Du bist schuld! Du hast mich ganz und gar ausgesaugt! Aufgefressen! Fertiggemacht! Mich zur Schnecke gemacht! In den Dreck getreten!

Mutter: Na sicher... Jetzt bin ich an allem schuld.

Papachen: аAber ich habТs doch gewußt! Gewußt hab ichТs!

Mutter (hart): Wann?

Papachen: Immer. Damals, noch vor deiner Zeit. Vor uns die Feuersbrunst, und hinter uns war niemand. Man hätte zurückweichen können, sich verstecken, davonlaufen... Aber wir sind keinen Schritt zurückgegangen. Haben unsere Absätze in den Hang gerammt Ц für immer. Bis zum bitteren Ende. (sein Gesicht leuchtet freudig auf): Genau! Ich habТs wieder! Damals war es! Das Wesentliche! Das wichtiger ist als alle deine Klamotten und Autos, wichtiger als das Gehalt und die Rente, die es vielleicht nicht einmal mehr geben wird. Wichtiger als das Haus, die Garage und...

Mutter (traurig): und als ich.

 

 

20.

 

Die Bühne versinkt wieder im Dunkel. In drei Lichtkreisen, die durch die Dunkelheit voneinander getrennt sind, stehen drei Gestalten: der Junge, die Mutter und Papachen.

 

Papachen (auf einmal viel jünger): Guten Tag, Fräulein!.. Sehen Sie mich nicht so an! Bitte nicht! Ich weiß selbst, daß ich unhöflich bin. Aber wie kann ich Sie kennenlernen?

Mutter: Doch da kam mein Bus, und ich bin weggefahren.

Papachen: Erinnern Sie sich nicht mehr an mich? Ich bin doch der, der Sie an der Haltestelle angesprochen hat. Fällt es Ihnen wieder ein? Das war ich. Und Sie...

Mutter: Und ich war eine Verwandte seines Freundes. Die Cousine. Ich war in diesem Sommer bei meiner Tante zu Besuch.

Papachen: Ach, ist das schön! Weißt du, um nichts in der Welt würde ich von diesem Strand weggehen!

Mutter: Warum?

Papachen: Weil du hier bist!

Mutter (lacht fröhlich, sorglos): Und wenn ich weggehe?

Papachen: Verliert die Welt ihren Glanz!

Mutter: Aber ich gehe doch nur vom Strand weg!

Papachen: Was soll ich mit dem Strand ohne dich?

Mutter: Bist du amüsant!

 

Der Hochzeitsmarsch ertönt. Die beiden Lichtkreise der Mutter und von Papachen verschmelzen zu einer leuchtenden Acht, die aussieht wie zwei verschlungene Eheringe. Sie küssen sich.

 

 

21.

 

Junge: Und dann kam ich.

 

Der Lichtkreis des Jungen nähert sich dem der Eltern.

 

Papachen: Was für ein prächtiger Kerl! Gleich beim ersten Mal ein Volltreffer!

Mutter (lächelt breit): Du hast ihn ja noch nicht begossen.

Papachen: Das ist doch alles dummes Zeug. Und überhaupt ist Alkohol schädlich. Weißt du, er sieht dir ähnlich. Ganz die Mutter.

Mutter: Ich glaube, er kommt nach dir.

Papachen: Nein, nach dir.

Mutter: Nach dir.

 

Sie schauen einander zärtlich an und berühren sich vorsichtig an den Händen. Das Licht wird etwas dunkler... Das Geräusch eines Metronoms, das im Sekundentakt tickt.

Im Lichtkreis erscheint der Junge.

 

 

22.

 

Junge: Sie brauchen mein Bonbon nicht.

Stimme: Nein, sie brauchen es nicht.

 

Der Junge öffnet die Faust, in seiner Handfläche liegt das Bonbon.

 

Junge: Und er kann sich nicht an das Allerwichtigste erinnern?

Stimme: Es ist zu spät. Alles, was sie konnten, ist schon Vergangenheit.

Junge: аUnd ich?

Stimme: Selbst du.

 

Zwei Lichtkreise an verschiedenen Seiten der Bühne: in einem weint die Mutter, im anderen schläft, die Flasche im Arm, Papachen. Das Licht verlischt langsam und unaufhaltsam.

 

Junge: Und da kann man gar nichts machen?

Stimme: Nein.

Junge: Und das Bonbon?

Stimme: Was ist mit dem Bonbon? Niemand hat es benutzt, und nun ist es wieder bei dir.

Junge (wickelt das Bonbon aus und ißt es): Und jetzt werden wir ja sehen!

Stimme: Du willst es selbst versuchen?

Junge: Ich hab doch gesagt, wir werden sehen!

Stimme: Das ist sowieso umsonst. Es wird nicht klappen.

Junge: Es wird klappen!

Stimme: Du hast doch gesehen, wie sie sind!

Junge: Sie sind meine Eltern! Es wird klappen!

 

Papachen hebt langsam den Kopf und sieht die weinende Mutter an. Die Flasche fällt ihm vom Schoß, und das Licht um ihn herum wird stärker. Er erhebt sich Ц das Licht wird heller. Er geht zu ihr und stützt sich mit den Händen an den Rändern der Dunkelheit ab.

 

Junge (überzeugt): Es wird klappen!

 

Die Lichtkreise um die Mutter und аPapachen verschmelzen zu einem Kreis, in dem das Licht ganz hell ist.

 

Papachen: Es war (reicht ihr die Hände) meine Schuld.

Mutter (sieht ihren Mann liebevoll an):а Es war meine Schuld.

Papachen: Nein... meine.

 

Ihre Hände treffen sich und sie fassen sich an. Der Junge lacht glücklich.

 

Mutter (dreht sich zu ihm um): Das ist unser Sohn.

Junge: Ich möchte ein Brüderchen! Und ein Schwesterchen!

Papachen (zu seiner Frau): Ich auch.

 

Die Erwachsenen küssen sich. Der Lichtkreis um sie herum wird größer.

 

Junge (wirft den Kopf zurück): Und du hast gesagt, es klappt nicht! He, hörst du mich? He, ich red mit dir! Wo bist du?

 

Die Bühne ist vollständig beleuchtet. Der Junge steht neben seinen Eltern und wendet sich ans Publikum:

 

Brüder werde ich haben! Und Schwestern werde ich haben! Und sie werden glücklich sein! Und mit ihnen gemeinsam auch ihr! (holt aus seinen Hosentaschen Bonbons und wirft sie ins Publikum) Eßt sie nur! Mögen sie euch glück bringen!

E N D E

й für die Übersetzung: Carola Jürchott

 

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