Valerij Kuklin

 

Aufgesang

 

(Ein Teil von Roman „Der grosse Stutzig“)

 

           

            „Ein Mistwetter ist das“, sprach ein großer stämmiger Mann mit einem Hängeschnauzer, der an einem Baum lehnte und auf den  langen züngelnden Feuerschweif, der sich um den Stamm eines umgestürzten Baumes wand, starrte. Sein verblichener und abgewetzter Rock mit dunklen Streifen an Stellen, wo einst Schmuckbänder  waren, saß wie angegossen, was bei der von Wegelagerern üblicherweise  getragenen Kluft sonst kaum anzutreffen war.  Sein glattrasiertes Kinn und der lange Schlachtaschnauzer ließen eine edle Abstammung vermuten, die weder in diesen Wald, noch an dieses Lagerfeuer und zu diesen in Bauernmäntel und Pelzmützen gehüllten Männer, die um die Wärmequelle fläzten, paßte.

            „Der Qualm könnte in Dorfrichtung ziehen“, fuhr er fort. „Er wird uns verraten.“

            „Hier kann uns keiner finden...“ erwiderte träge einer der Männer im Bauernmantel und hielt den auf einen Stock aufgespießten Pilz in die Flammen.

            Der Nieselregel fiel wie Staub auf die gekrümmten Männerrücken, drückte die Rauchschwaden ans welke Gras, die sich, einem blaßblauen Teppich gleich, in Baumgeäst und faulendem Laub verfingen und wie ein Nebelschweif  vom verborgenen Unterschlupf ausbreiteten zum Tannenwäldchen, dann zum Kiefernwald dahinter und schließlich weiter zum Waldsaum, hinter dem, wie man wußte, sich ein stilles Flüßchen mit längst verstummten Fröschen unter der auf einem Pfeiler ruhenden Brücke schlängelte, an dessen Ufer ein unscheinbarer halb verwester Weiler aus zwanzig Katen und einer Kirche aus dem Boden ragte.

            Dorthin hatte sich die Meute in der vorangegangenen Nacht  zum Diebeszug aufgemacht, um sich mit Vorräten und Feuerwein einzudecken. Aber ein Trupp des Regenten, der den Weg daherkam, der sich am gegenüberliegenden Ufer den Fluß entlang schlängelte, war ihnen, pfeifend und Lieder grölend, zuvorgekommen. Die bunten Armeeröcke und die blanken Streitäxte hatten den Halsabschneidern großen Respekt eingeflößt. Auch die Dorfschönen, die schnell die Fensterläden zuschlugen, um diese sogleich wieder einen Spalt breit aufzumachen, um mit gierigen Augen das angekommene Mannsvolk zu verschlingen, waren von ihnen sichtlich beeindruckt.

            Die Wegelagerer machten sich auf zum Rückzug in den Wald. An einer umgestürzten hohlen Kiefer machten sie Halt, stopften das Moos ins gespaltene Holz und schürten das Feuer, um das sich jeder ein Plätzchen sicherte.

            Der Schnauzbärtige, der die Warnung aussprach, war im Frühsommer zu ihnen im gestoßen. An einem verregneten lauen Tag stand er plötzlich da auf der kleinen Waldlichtung, klopfte am Eingang zur Erdhütte den Schmutz von den Stiefeln ab und ließ seinen Körper ins Innere der Notbehausung gleiten, in der es nach Männerschweiß und gedämpften Kohlrüben miefte. Der im Geäst eines Baumes lauernde Wachposten hatte ihn erst wahrgenommen, als nur noch die spitze Mütze des ungebetenen Gastes über dem Eingangsloch schwebte. Später haben er und seine Gefährten immer wieder die Fähigkeit des Neuen bewundern müssen, im richtigen Moment und am richtigen Ort wie aus dem Nichts aufzutauchen und sich wieder in Nichts aufzulösen.  Hunde witterten nicht sein Herannahen, und wenn sie ihn sahen oder kommen hörten, schlugen  sie nicht an, sondern wedelten mit Schwänzen oder preßten die Köpfe zwischen den Pfoten gegen die Erde.

            Von den um das Lagerfeuer hockenden Männern hätte keiner  sagen können, ob der Schnauzbärtige schon lange unter ihnen weilte. Denn nie sah ihn einer kommen oder gehen. Sie waren an sein plötzliches Sich-in-Luft-Auflösen gewöhnt und vertrauten ihm. Wenn er von seinen Streifzügen kam, wußte er von einer in der Nähe herrenlos weidenden Kuh, einem nahenden Pferdezug, einem Hinterhalt der Landsknechte oder dem Anmarsch von Streletzen zu berichten... In der Bande verhielt er sich unauffällig, trachtete nicht nach der Häuptlingsehre, sprach selten, dafür aber hatte jedes seiner Worte Hand und Fuß. Er aß immer aus eigenem Geschirr und mit eigenem Löffel. Außer Waffen und dieser spärlichen Habe führte er nichts bei sich.

            Nur der Häuptling, ein Mann mit dichter Haarmähne und knielang gestutzter Mönchskutte unter dem Bauernmantel, dessen  Namen niemand kannte und der seit fünf Jahren von anderen nur ehrfürchtig Ataman gerufen wurde, beäugte mißtrauisch den Schnauzbärtigen. Vieles am Schnauzbärtigen war ihm nicht geheuer: dessen Verschlossenheit und die stete Weigerung, seinen Anteil am Beutegut anzunehmen, auch seine Besonnenheit, die er bei Streitigkeiten an den Tag legte, wenn die anderen mit funkelnden Augen nach ihren Messern langten. Wurde ein Freiwilliger gesucht, der beim Überfall  als erster den Hinterhalt verließ und den Konvoi ablenkte,  war stets er es, der sich meldete. Und führte der Häuptling mal ein falsches Wort, sei´s aus Unverstand oder weil das teuflische Gebräu seine Zunge führte, wagte sich nur der Schnauzbärtige dazwischenzureden und die Einfältigkeit des Gesprochenen anzuprangern.

            Den Wegelagerern war es nur recht, daß der Schnauzbärtige stets den gefährlicheren Part übernahm: Er brachte es fertig und stellte sich ganz allein einer Karawane mit berittenen Wachen in den Weg und forderte von verschreckten Kaufleuten den Wegezoll. Seine selbstsichere Dreistigkeit wirkte so überzeugend, daß niemand von ihnen auf den Gedanken kam, dieser grämliche Mann könnte sie vorführen. Nur schnell den Wegezoll entrichten, bevor die Arkebusen, Gewehre und die Kanone zum Einsatz kamen! Kaufleute kauften sich geschwind frei,  heilfroh darüber, daß alles so glimpflich verlaufen war.

            Auch das gefiel dem Häuptling nicht. Langsam aber sicher sah er sich vom Schnauzbärtigem in den Hintergrund gedrängt und der Autorität beraubt. Zuweilen weigerten sich die Wegelagerer, in Abwesenheit des Schnauzbärtigen die Anweisungen des Häuptling zu befolgen oder zögerten ihre Entscheidung so lange hinaus, bis jener wieder zugegen war. Als der Häuptling hörte, wie einer der Männer sagte „Hier findet uns keiner...“, wähnte er, endlich sei die Zeit gekommen zu zeigen, wer in der Truppe das Wort führe. Ohne den Schnauzbärtigen eines Blickes zu würdigen, sprach er zu ihm:

            „Du, Schrat, könntest dich doch bis an den Weiler heranpirschen und erkunden, wie lange die Streletzen zu bleiben gedenken.“

            Im Geheimen erhoffte er, die Streletzen würden den Mann erspähen und ergreifen, und er könnte derweil mit den Männern das Weite suchen.

            Zum ersten Mal widersprach der Schnauzbärtige entschieden: „Wir müssen schleunigst fort von hier. Merkt ihr denn nicht, daß aus dem Dorf keine Lieder, kein Hundegekläff zu hören sind. Wären die Streletzen noch dort, hätten wir das Geschrei der Zechbrüder doch längst vernommen.

Damit hatte der Schnauzbärtige Recht. Doch so einfach weggehen von der wärmenden Feuerquelle wollte niemand. Und der Ataman, zornig über die Befehlsverweigerung, beharrte darauf:

            „Geh und sieh nach. Vielleicht sind die Streletzen längst weitergezogen, und wir lassen uns hier vom Regen aufweichen.“

            Zustimmendes Raunen ging durch die Reihen der auf Raubzügen Verbrüderten. Pilze als einzige Nahrung haben längst die Gaumen sich nach warmer Kohlsuppe sehnen lassen. Niemand wollte, hoffnungslos in den grauen Herbsttag blickend, an die Gefahr denken, von der niemand genau wußte, ob sie denn überhaupt lauerte, und jeder sehnte sich nach warmer trockener Bleibe, einem anschmiegsamen Weibe, mit dem man auch den Inhalt der Geheimtaschen, in denen das Diebesgut verstaut war, geteilt hätte.

            Der Schnauzbärtige trat hinter einen Baum, und als der Anführer, der keine Antwort erhielt, nach ihm sah, war der längst verschwunden.

            „Schrat bleibt Schrat“, sagte er und spuckte auf den Boden.

            Die anderen kauten an halb rohen Pilzen und schwiegen teilnahmslos.

            Plötzlich loderte der Baumstamm an einem Ende hell auf, die Flamme sprang, sich schier losreißend, auf einen tief herabhängenden Tannenzweig über und begann, in dem trockenen Tannenunterholz zu knistern, aus dem nach allen Seiten Funken stoben.

            Die Männer fuhren erschreckt zurück, und einer von ihnen riß den Hosenbund auf und führte den Strahl unter empörten Rufen der Kameraden auf das lodernde Holz.

            „Stinkst wie ein Ziegenbock!.. Du Stinktier!... Was fällt dir ein, man hätte das auch anders löschen können...“

            Der Schuldige kam nicht mehr zum Erwidern. Ein kurzer befiederter Pfeil bohrte sich in seine Brust und warf ihn auf das Wurzelgeflecht der Fichtenbäume.

            Die Männer sprangen auf. Eisige Kälte beschlich sie, weil die Dunkelheit sie auf einmal mit vielen Augen anzustarren schien.

            „Sitzen bleiben!“, hörten sie die scharf klingende Stimme.

            Die Männer sahen sich verängstigt um und ließen sich wieder auf den Boden fallen.

            „Aufreihen!“

            Die Mannsleut reihten sich kniend und hockend entlang des Baumstamms aneinander.

            Drei Burschen im Heergewand und mit Stricken in den Händen, traten hinter den Bäumen hervor. Mit geübten Griffen banden sie Schlingen, mit denen sie den Männern die Hände hinter den Rücken festzogen und sie dann zu je vier Mann aneinander fesselten, so daß drei Menschenbündel entstanden waren.

            „Da fehlt doch einer“, sagte der mit der befehlenden Stimme. „Es müssen dreizehn sein.“

            „Da liegt er“, sagte der in der Mitte des zweiten Bündels stehende Anführer und wies auf den Toten mit dem Pfeil in der Brust. „Das ist der dreizehnte.“

            Aus der Dunkelheit trat ein weiterer Streletze zu der Feuerstelle, ein untersetzter stämmiger Mann, der leicht hinkte. Er griff nach dem Ast, auf dem vor wenigen Augenblicken einer der Männer saß, und warf ihn ins Feuer. Das Feuer knatterte bedrohlich und schleuderte helle Lohen gen Himmel, die die Gesichter der Gefesselten, der Streletzen und des Toten in grelles Licht tauchten.

            Das am Rande sitzende Menschenbündel nutzte das Blendlicht, stieß mit geübtem Griff den daneben stehenden Streletzen weg und sprang mit einem Satz in die Dunkelheit, ging jedoch gleich wieder zu Boden, von mehreren Dutzend Pfeilen tödlich getroffen.

            Der erschrockene Streletze befreite sich von den zuckenden Leibern. Er lächelte schuldbewußt, seine zitternden Hände spielten mit dem Messer.

            „Du mußt schon auf der Hut sein“, sagte spöttisch der Stelzbeinige. „Sonst lebst du nicht lange. Dreh die mal um. Ich will mir ihre Visagen ansehen.“

            Der Streletze steckte sein Messer in den Gurt und begann, die Toten umzudrehen.

            Der Stelzbeinige warf wieder ein Stück Holz ins Feuer, das zweite behielt er in der Hand, zündete es an wie eine Fackel und besah sich im Feuerschein erst die Gesichter der Toten, dann die der Lebenden. Das Gesicht des Mannes, der als letzter in der Reihe stand, war unter der zottigen Mütze verborgen.

            „Runter damit“, befahl der Stelzbeinige.

            Der Gefesselte drehte heftig den Kopf, die Mütze fiel zu Boden, einen Rotschopf und ein knabenhaft zartes Gesicht mit Sommersprossen preisgebend.

            „Was hat denn ein Milchbart wie du hier zu suchen?“ staunte der Stelzbeinige.
            „Ich bin bei meinem Vater“, antwortete der Knabe mit brüchiger Stimme und schluchzte.

            „Wer ist dein Vater?“

            Der Knabe schielte ängstlich zu den Toten, die in Feuernähe lagen. Der junge Streletze versuchte gerade, einen von ihnen auf den Rücken zu drehen. Der Mann, ebenfalls ein Rotschopf, war von solch mächtiger Statur, daß die vier in ihm steckenden Pfeile sich wie Stricknadeln ausnahmen.

            Der Streletze bemerkte, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren, packte den Rothaarigen fest am Mantelkragen und zerrte mit aller Kraft an ihm. Plötzlich huschte blitzschnell die Hand des Rothaarigen hinter den Gürtel des Streletzen, packte dessen Messer und bohrte es in den Bauch Kriegsknechts.

            Ein Pfeil blitzte auf und sprengte den Rotschopf entzwei.

            Der verwundete Streletze hielt sich mit beiden Händen die Wunde zu, stürzte zur Erde und rief schluchzend nach der Mutter.

            „Ich sagte doch, paß auf!“ schüttelte mit dem Kopf der Stelzbeinige und rief in die Dunkelheit: „Zum Wundheiler mit ihm!“

            Zwei weitere Streletzen traten aus der Dunkelheit, legten vorsichtig den sich vor Schmerz krümmenden Körper auf die Trage und verschwanden mit ihm im Wald.

            Der Knabe sah zum getöteten Vater und weinte bitter.

            „Hast wohl Mitleid mit deinem Alten?“ fragte der Stelzbeinige, sich zu ihm wendend. „Ein ehrbarer Tod, alle Achtung.“ Und er zog blitzschnell den Säbel aus der Scheide und hielt die blanke Spitze an den Hals des Knaben. „Sieh hin!“

            Der Knabe, halbtot vor Angst, starrte auf die Toten und dann auf die Lebenden.

            „Sind sie vollzählig?“

            Der Knabe blinkte dümmlich mit den Augen und nickte heftig mit dem Kopf.

            „Du lügst“, sagte der Stelzbeinige mit Bedauern und stieß die Klinge in den Jungenhals. Er wischte die Schneide am lang gestreckten Körper des Knaben ab und drehte sich zu den anderen.

            „Wo ist noch einer?“ fragte er drohend, und sein Blick bohrte sich in die Gesichter der Männer. „Ihr wart doch nicht dreizehn!“ herrschte er den Anführer an.

            „Vierzehn“, erwiderte der, ohne den Blick vom Gesicht des Stelzbeinigen zu wenden. „Einer ist fort.“

            „Wann?“

            „Vor kurzem. Bevor ihr eintraft.“

            „Wohin?“

            „Ins Dorf.“

            Der Stelzbeinige fluchte, drehte sich zum Feuer und befahl:

            „Sperrt sie in den Speicher. Die Toten auf den Pferdewagen zur Feststellung der Person...“ Er schlug mit dem Säbel auf den glühenden Baumstamm, und eine Gerbe von Funken stieg in die Höhe. "Verdammt!.. Schon wieder ist der entwischt!..“

 

            Im Haus des Priesters hielt der Stelzbeinige Gericht über die Waldbrüder. Lichterloh brannten die Kienspäne und erhellten den Raum mit einem Ofen, den Tisch unter den Heiligenbildern, den in der Mitte des Raumes stehenden Häuptling und den am Tisch sitzenden Stelzbeinigen und seinen Schreiber.

            „Wie ist´s mit der Folterbank? Kennst du die?“ fragte der Stelzbeinige den Gefangen, ihn mit seinem nichts Gutes verheißendem Blick bohrend.

            „Kam schon vor“, antwortete jener ruhig und verlagerte das Gewicht aufs andere Bein. „Dir Hauptmann, kann ich´s ja sagen. Bin ein Zugvogel, hab schon so manches gesehen und erlebt. Wenn du mich fragst, sollst du eine Antwort haben, wenn ich sie weiß. Wozu also die unnötigen Drohungen?“

            „Wie alt bis du?“

            „Zweiundfünfzig.“

            „Ein bißchen viel, findest du nicht? Galgenvögel leben sonst nicht so lange.“

            „Der liebe Gott ließ Gnade walten.“

            „Nicht der Gott, der Teufel wird´s wohl gewesen sein“, und das Streletzenoberhaupt spuckte aus vor Zorn. „Gott verzeih mir! Hast du viele Toten auf deinem Gewissen?“

            „Hab´nicht gezählt. Niemand wollt´s so genau wissen“, antwortete der Gefangene. „Die Wahrheit ist, es waren nicht wenige. Ich habe unter unserem Großfürsten Iwan Wassiljewitsch im Livländischen Krieg gekämpft.“

            „Dem Zaren gedient und dann bei Wegelagerern gelandet...“ sprach nachdenklich der Dienstmann. „Wie ist dein Name?“

            „Tichon“, antwortete leise der Gefangene. „Tichon Krapiwin.“

            „Krapiwin...“ wiederholte nachdenklich der Stelzbeinige, auf den Tisch vor sich hinstarrend. „Tichon Krapiwin... Bist du etwa der Tischka Krapiwin, der für die Jagdvögel des Zaren zuständig war und drei von ihnen verrecken ließ?“

            „Der bin ich“, seufzte der Mann und trat unruhig von einem Bein aufs andere. „Aber ich bin frei von Schuld. Der selige Großfürst Fjodor Iwanowitsch hatte kein Herz für gefiederte Fänger, kümmerte sich nicht um sie. Die Kämmerer nutzten das aus und teilten den Tieren keine lebende Nahrung zu, ließen sie nicht fliegen. Wie sollten sie nicht verrecken? Ich habe für die Falken Mäuse und Ratten gefangen... Eines Tages fand ich eine tote Ratte und warf sie den Falken vor. So sind sie verreckt. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte ich dann den Vögeln das Aas vorwerfen müssen? Man zerrte mich erst zur Folterbank, und dann ins Kerkerloch...“

            „Und du bist geflohen?“ 

            „Ja, erst an den Don-Fluß“, nickte der Ataman. „Später an die Wolga, und dann hierher, in die Nähe von Pskow. Ein für jedermann freies Land mit vielen Handelswegen ...“

            „Hüte lieber deine Zunge, du räudiger Köter!“ verzog der Dienstmann unmutig sein Gesicht. „Es fehlte noch, daß ein Dieb sein Urteil fällt über unser Reich. Weiß du, wo dein Platz ist? Am Haken, an dem der Galgenstrick hängt. Und das Schafott ist deine Freistatt. Was du erzählst, ist Lüge, du niederträchtiger Bastard... Niemand hat das Futter für die fürstlichen Falken zurückgehalten. Du selber hast es verkauft, das Geld versoffen und die Vögel mit dem Aas bewirtet. Du Tischka warst Bojarensohn...“ Der Stelzbeinige richtete seinen bleischweren Blick auf den Gefangenen. „... hast dem Zaren, unserem Rus,  gedient und bist dem Verderb anheimgefallen. Das kommt dir teuer zu stehen, du wirst mit deinem Blut zahlen müssen.“

            „Bin bereit.“

            „Mich täuschst du nicht, du Wurm“, sprach verärgert der Stelzbeinige. Du weißt ganz genau: Ich geb mich nur deshalb mit dir ab, weil du gebraucht wirst. Dich zu richten, um dem Pöbel Angst einzujagen, bringt nichts. Dort, wo gestern deine Meute wilderte, wird morgen die nächste ihr Unwesen treiben. Alle kann man nicht fangen und henken." Er drehte sich zum Schreiber und sprach: „Geh raus. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche.“

            Der Schreiber sprang bereitwillig auf, und ging, ohne den Gefangenen anzublicken, aus dem Raum. Er schloß leise und fest die Türe hinter sich.

            „Bleib, wo du bist“, befahl der Stelzbeinige, als er bemerkte, wie der Ataman einen Schritt nach vorn machte, und holte seine Pistole aus der Brusttasche, die er auf den Tisch legte. „Warum trägst du die Mönchskluft?“

            „Die bringt mir Glück.“

            „Das kann ich mir denken. In der Kanzlei von Pskow kann man heute noch hören, daß in der Gegend ein Mönch sein Unwesen treibt. Man ist alle Kirchenregister durchgegangen, hat aber keinen Kirchenmann von deinem Äußeren entdecken können. Geschickt gemacht. Alle Achtung.“

            „Ich versteh dich nicht“, runzelte der Häuptling die Stirn. „Warum werd´ ich nicht gefoltert, nicht hingerichtet? Oder willst du mich der Patriarchenkanzlei überstellen? Inzwischen weißt du ja, daß ich keinen Kirchenschwur geleistet habe. Also, was willst du?“

            „Du fürchtest dich doch nicht etwa?“

            „Ungewißheit ist es, vor der man sich fürchtet. Sag, daß du mich hinrichtest, und mir wird ein Stein vom Herzen fallen. Spiel nicht Katz und Maus mit mir. Zögere nicht länger, sag, was Sache ist.“

            „Du stehst der Macht, der Ordnung im Wege. Ist dir das bewußt?“

            „Ja.“

            „Bist ein Bösewicht, der den Galgen verdient. Ist das auch klar?“

            „Ja.“

            „Deine früheren Heldentaten zählen nicht mehr - du hast das Gesetz gebrochen. Ist dir das klar?“

            „Auch das weiß ich“, seufzte der Anführer.

            „Und niemand wird Gnade walten lassen, außer vielleicht dem lieben Gott, wenn du ihn darum bittest, dich vor Tod und Folter zu bewahren. Ist das so?“

            „Ja.“

            „Und wenn ich dir jetzt das Leben und die Freiheit schenke...“

            Der Ataman erbebte. Für einen Augenblick trafen sich die Blicke der beiden Männer. In den Augen des Stelzbeinigen war blanke Verachtung zu lesen, und gerade das ließ den Gefangenen wieder Hoffnung schöpfen. Er senkte seinen Blick.

            „... wirst du natürlich wieder auf Raubzüge gehen“, setzte der Dienstmann fort. „... und wirst deine Sünden weiter mehren. Seh´ ich das richtig?“

            „Leider, ist das so“, antwortete der Gefangene. „Ich will es nicht abstreiten. Ein Wunder wird es nicht geben, doch...“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich bin eben ein Gauner, aus mir wird kein frommer Bruder werden“, und er sah seinem Gegenüber fest in die Augen.

            „Ich schätze deine Ehrlichkeit“, erwiderte lächelnd der Stelzbeinige und schloß mit Nachdruck: „Du sollst frei sein. Meinetwegen auch deine Kumpane, dieses Diebesgesindel.“

            „Willst mich wohl mit der Hoffnung foltern, Dienstmann?“, fragte ungläubig der Ataman. „Wir sind Mörder, der Abschaum. So viel Geld gibt es gar nicht, um uns von unseren Sünden freizukaufen.“

„Räuber, Abschaum...“, wiederholte nachdenklich der Stelzbeinige. “Im Vergleich zu dem, den ich suche, bist du ein Lahm Gottes. Er ist ein echter Feind des Moskowiter Reiches, er ist sein Untergang. Er ist die Verkörperung des Antichristen. Er ist das Ziel meines Tuns.“

            „Du suchst den Schnauzbärtigen, den Schrat?“, erriet der Ataman. „Ihr wolltet gar nicht uns, sondern ihm zu Leibe rücken?“

            „Kannst du dich an sein Gesicht, seine Statur, den Gang erinnern?“ fragte der Dienstmann.

„Und ob ich das kann. Schließlich ist er seit dem Frühjahr bei uns.“

            „Würdest du ihn auch dann wiedererkennen, wenn er wie ein Greis oder ein Jüngling aussähe, bärtig oder glattrasiert wäre,  Frauen- oder Männerkleider trüge?“

            „Ganz sicher bin ich mir nicht...“, gab der Ataman zu. „Doch ich glaube, ich würde ihn wiedererkennen.“

            Der Stelzbeinige ergriff vom Tisch die Pistole, steckte sie in die Brusttasche, holte ein Messer heraus und schnitt die Fesseln an Atamans Händen durch. Als der Häuptling, die Fesseln herunter streifend sich zum Offizier umdrehte, sah er ihn am Ofen mit der direkt auf seine Brust zielenden Pistole stehen.

            „Die Vergebung ist dir sicher, auch deine Standesehre wird man dir wieder angedeihen lassen, dein Erb und Eigen wirst du wieder bekommen“, fuhr der Stelzbeinige fort. „Finde ihn und wirf ihn entweder mir, dem Patriarchen oder dem Zaren höchstpersönlich zu Füßen.“

            „So viel für einen einzigen Halsabschneider?“ staunte der Ataman und rieb sich die Handgelenke.

            „Er ist die Ausgeburt der Hölle.“

            Die Tür flog auf, und der Schreiber stürzte herein.

            „Die Gefangenen sind fort“, schrie er aufgeregt. „Irgendwer hat die Wächter erdolcht und sie befreit!“

            „Der vierzehnte...“ sprach der Stelzbeinige, die Pistole zum Boden senkend.

            „Das war er, der Schrat“, sprach der Ataman, und ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht.

 

            Am Morgen darauf stand die Sonne am Himmel. Aber ihr karges herbstliches Licht wärmte nicht. Die Nässe hatte sich im Laub und Geäst eingenistet. Nur am Waldsaum war es etwas wärmer und trockener.

            Sieben Männer saßen auf einer umgestürzten Espe und rissen mit den Zähnen am rohen Fleisch.

            „Widerlicher Fraß ist das“, sagte einer, „wenn man wenigstens Salz hätte.“

            „Wie wär´s denn mit einem Häuschen und Ofen dazu?“ fragte gehässig ein anderer. „Und ein Weibchen mit Kinderchen, was hältst du davon?“

            „Schlecht wär´s nicht“, antwortete der erste sichtlich gekränkt. „Aber wir können zufrieden sein, daß wir noch leben. Wenn der Schrat nicht wäre, würden wir jetzt in den Schlingen auf den Birken baumeln.“

            „Der Ataman soll es nun statt unserer besorgen“, sagte der dritte und löste damit ein einmütiges Gelächter aus.

            In diesem Moment näherte sich der Schnauzbärtige unbemerkt den Männern. Er hielt einen Hasen in den Händen, der sich in einer Schlinge verfangen hatte.

            „Laßt uns den Schrat zum Häuptling wählen“, sagte einer der Sitzenden und warf den abgenagten Knochen ins Gebüsch.

            „Einverstanden... Es ist längst an der Zeit...“, stimmten ihm die anderen zu.   

            Nach der zermürbenden Nacht war nun die Ruhe in der Runde eingekehrt. Die Männer, ermüdet vom üppigen Mahl, blinzelten schläfrig in die Sonne. Sie hätten jetzt auch für jeden anderen Vorschlag gestimmt. Sogar der Knebel, Atamans treuester Gefährte und Schrats Rivale, nickte zustimmend, als hätte er bereits vergessen, daß der Mann, der ihr neuer Anführer werden sollte, ihn vor geraumer Zeit fast getötet hätte.

            Der Schnauzbärtige spähte nach einem trockenen Zweig auf der Erde. Als er einen erblickte, setzte er seinen Fuß darauf. In der Stille des Waldes hörte sich das laute Knacken des Zweiges  wie ein Schuß an. Die Männer fuhren hoch, der Knebel hingegen ging vor Schreck zu Boden.

            „Ich bin´s doch nur“, sagte beschwichtigend der Schrat und sah in die erstaunten und erschrockenen Gesichter. „Ich bring den Hasen“, und er warf ihnen das Tier zu.

            Der Bursche, der vorgeschlagen hatte, ihn zum Anführer zu machen, wurde für seine pechschwarze Mähne und schwarze Augen Zigeuner genannt. Er ergriff den Hasen und begann, ohne ein Messer zur Hilfe zu nehmen, mit bloßen Fingern dem Hasen das Fell abzuziehen, wie er es an diesem Tag schon einmal getan hatte, nachdem die Männer aus dem Speicher, der ihnen als Gefängnis diente, entkommen waren und auf dieser Lichtung eine Rast eingelegt hatten.

            „Willst du auch was haben?“ fragte er den Schrat und hielt ihm einen abgetrennten Läufer hin. Das Blut tropfte von dem in der Kälte dampfenden Fleisch und besudelte seinen Arm bis an den Ellenbogen.

            „Ich, nein“, lächelte der Schnauzbärtige. „Ich nehme kein blutig Fleisch zu mir.“

            Mit Verwunderung sah er zu, wie gierig diese ans Hungern gewohnten Männer das Fleisch verschlangen. Der nächtliche Schock war ihnen noch immer anzusehen. Ans Feueranzünden war nicht zu denken. Der aufsteigende Rauch könnte ihr Versteck verraten.

            „Wir haben dich hier in deiner Abwesenheit zu unserem Häuptling bestimmt“, sagte der Knebel, der sich vom Boden aufrichtete. Er hatte sich eine Keule mit großem Steißstück, an dem noch Hasenhaare klebten, gesichert. „Unser Ataman scheint...“, und er deutete mit dem Finger eine Schlinge um den Hals und zeigte zum Baumwipfel nach oben.

            „Hast du´s denn mit eigenen Augen gesehen?“ fragte der Schrat.

            „Das nicht“, verneinte der Knebel.

            „Solange du´s nicht gesehen hast, bleibt er unser Ataman.“

            „Wie hätte ich denn das sehen sollen?“ wunderte sich der Knebel. „Ganz einfach. Gehst zum Dorf zurück und siehst nach“, entgegnete ruhig der Schrat.

            Der Knebel verschluckte sich vor Schreck.

            „Ich soll ins Dorf gehen?“, fragte er, und seine Augen weiteten sich.

            „Ja, du. Heute nacht. Bis zum Dorfrand begleite ich dich, weiter gehst du alleine. Am Morgen, wenn wir wieder hier sind, werden wir weiter sehen.“

            „Wozu das?“ widersprach der Knebel. „Wir haben´s doch geschafft, sind frei, Gott sei dank. Wozu also noch einmal das Schicksal herausfordern?“ Er sah sich nach den Männern um in der Hoffnung, ihre Zustimmung zu bekommen.

            Die Männer wendeten ihre Blicke ab. Man stand einander nicht bei, wenn es brenzlig wurde.

            „Weil er zu uns gehört“, antworte der Schrat. „Heute lassen wir ihn im Stich, morgen vielleicht dich. Man kann sich doch gegenseitig nicht aufgeben!“

            „Ich denke nicht dran“, schüttelte der Knebel den Kopf. „Mir ist jetzt noch..., wenn ich nur dran denke!..“ Und er biß von seinem Fleischstück ab.

Der Schnauzbärtige zog sein Messer hinter dem Gürtel hervor. Er war der einzige, der noch eine Waffe besaß. Alle wußten, daß das Messer in seiner Hand ein tödliches Werkzeug war, was er, wie kein anderer, zu gebrauchen verstand. Die Männer hatten  mal miterlebt, wie er mit einem treffsicheren Wurf aus zwanzig Schritt Entfernung mit dem Messer den Hals eines Kaufmanns traf. 

Der Knebel spuckte den Knochen aus und nickte zustimmend...

 

Beim Erklimmen des Zaunes des am Waldrand stehenden Hauses wurde er gefaßt. Man warf ihm eine Bastmatte über den Kopf und schlug mit einem schweren Gegenstand zu.

Als er in dem Raum des Popenhauses zu sich kam, in dem noch vor kurzem der Ataman verhört wurde, sah er am Tisch den Stelzbeinigen sitzen. Die beiden waren allein in der Stube. Knebels Hände waren nicht gefesselt, seine Kleidung war pitschnaß, weil man einen Eimer Wasser über ihn gekippt hatte.

            Der Knebel spuckte aus und strich sich mit den Händen das Wasser und die Haare aus dem Gesicht. Dabei drehte er den schmerzenden Kopf zur Seite, um zu sehen, wer ihm die Dusche bescherte und jetzt hinter seinem Rücken stand. „Oh Gott, der Schädel brummt mir“, stöhnte er.

            „Dafür gibst du jetzt Ruhe, ist das nicht so?“ griente der Ataman, der hinter ihm stand. „Ich wußte, daß einer von euch zurück kommen würde. Dann sag uns doch, warum du hier bist?“ Und er stellte sich neben den Dienstmann.

            „Um dir, Dummkopf, zu helfen“, entgegnete wütend der Knebel. „Der Schrat meint, man darf die seinen nicht im Stich lassen.“

            „Ist er jetzt also euer Ataman?“

            „Er hat´s abgelehnt, solange es nicht sicher ist, daß du nicht mehr lebst.“           

            „Wie großmütig von ihm“, höhnte der Ataman.

            Der Knebel, der wieder bei vollem Bewußtsein war, begriff endlich, in welcher mißlichen Lage er sich befand. Der Ataman wurde also nicht gehenkt. Nicht mal verhaftet, sondern stand seelenruhig neben dem Streletzenanführer. Oder träumte er das nur?... Der Knebel bekreuzigte sich.

            „Satan in Atamans Gestalt, du sollst verschwinden“, sprach er schon friedlicher.

            Der Ataman und der Dienstmann lachten schallend.

            „Jetzt reicht´s!“ unterbrach der Stelzbeinige jäh das Gelächter. „Du bist also der Knebel. Du zähltest doch nicht zu Schrats Freunden. Trotzdem bist du mit ihm ins Dorf gegangen...“, und er sah den Mann mit seinem starren Blick an, eine Antwort fordernd.

„Ja“, nickte der Knebel. „Wir waren zu zweit. Der Schrat ist hier.“

            „Im Dorf?“

            „Nein, er wartet im Wald.“

            „Was will er?“

            In diesem Moment wurde es dem Knebel bewußt, daß er, ohne zu zögern, alle Fragen des Alten beantwortete, dessen bleischwerer Blick ihn fast erdrückte. Dennoch antwortete er gefügig: „Ich sollte heraus bekommen, ob der Ataman gehenkt wurde oder ob man ihn noch retten kann.“

            „Das war alles?“

            „Ja.“

            „Wo soll er auf dich warten?“

            „Wir hatten keine bestimmte Stelle ausgemacht. Er meinte, er würde mich finden, wenn ich nach Norden ginge.“

            „Das nenn ich Vorsicht!“ entwich es dem Hauptmann. “Aber auch wir sind nicht von gestern.“ Er  erhob sich und begann im Raum auf und ab zu laufen. Dann blieb er neben dem Knebel stehen. „Also, du hast den Ataman lebend gesehen, stimmt´s?“

            „Ja.“

            „Nun wirst du, wie befohlen, nach Norden gehen. Wenn der Schrat zu dir stößt, sagst du ihm, der Ataman sitze im Verlies. Klar? Seine Hinrichtung ist für morgen früh vorgesehen. Oder mittags?“, wandte er sich fragend zum Ataman.  

            „Lieber am Morgen. Da stirbt es sich angenehmer“, entgegnete der lächelnd.

            „Also am Morgen“, gab sich der Stelzbeinige einverstanden und kehrte an den Tisch zurück. „Wenn es dir gelingt, den Schrat ins Dorf zu locken, wirst du all deiner Sünden freigesprochen werden. Eine Kuh und genügend Holz für ein Häuschen bekommst du ebenfalls.“

            Knebels Gesicht verfärbte sich rot. Er fiel zu Boden, schlug mit der Stirn auf den Dielen auf und stöhnte:

            „Väterchen, ich danke dir für die Gunst. Gott möge dich bewahren! Du Gütiger!“

            „Gütig werd´ ich sein, wenn wir den Halunken kriegen. Wenn nicht, wird der Galgenstrick dein Haus sein. Geh jetzt.“

            Als der Knebel, sich verbeugend rückwärts der Tür näherte und hinter ihr verschwand, sagte der Dienstmann zum Ataman: „Niederträchtig wie ein Wurm ist dieser Kerl. Ich möchte nur wissen, warum der Schrat ausgerechnet ihn ausgewählt hat.“

 

Der Knebel aber, der gerade so unerwartet dem Tod entronnen war, hatte nur noch eins im Sinn – er wollte so schnell wie möglich weg aus der Gegend. Er wollte weder zur Bande zurück noch in den Weiler, in dem sich der Steletzenanführer und der Ataman verschanzt hatten. Er begriff nicht, warum der Dienstmann und der Häuptling auf einmal gemeinsame Sache machten und sich gegen einen gewöhnlichen Wegelagerer verbündeten, der in seinem Wesen zwar eigenartig, als Person aber doch recht unbedeutend war. Doch wenn der Kopf des Schrats wirklich so viel wert war, daß man auf ihn solch großzügige Belohnung aussetzte, dann mußte die  Sache einen Haken haben, und er wollte um nichts auf der Welt - für keine Kuh und für kein Haus – in diese hineingezogen werden. Er hat zu viele Enttäuschungen und Rückschläge in seinem Leben hinnehmen müssen, um an die großartigen Versprechen zu glauben.

 

So dachte der vor der Verlockung fliehende Knebel, ging jedoch nicht nordwärts, wie der Schrat und der Dienstmann ihm befohlen hatten, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Kurz vor der Brücke über dem Bach stellte sich auf einmal der Schnauzbärtige ihm in den Weg. Der Knebel duckte sich vor Schreck.

„Wohin des Wegs?“ hörte der Knebel die vertraute Stimme. Er spürte, daß die Angst wie eine heiße Zange seinen Unterbauch umspannte und die Hose eklig feucht werden ließ. „Ich gehe nach Norden“, flüsterte er und richtete sich auf.

„Hier geht´s aber nach Süden“, meinte der Schrat. „Wo ist nun unser Ataman?“

„Der sitzt im Keller im Popenhaus“, antwortete der Knebel wie ihm der Dienstmann befohlen hatte, und ein Grauen beschlich ihn, als er begriff, daß er den Schrat mit Haut und Haaren  verraten und verkauft hatte und es für ihn kein Zurück mehr gab.

„Alles klar“, entgegnete jener. „Dann laß uns zur Truppe gehen!“ und er stieg in den Bach hinab. „Beeile dich“, warf er dem Knebel zu, im Wasser am Ufer entlang stapfend. „Ich höre das Hundegebell.“

 

Die Spürhunde, die der Stelzbeinige mit sich führte, gehörten einer unbekannten fremdländischen Rasse an. Sie ergriffen sofort die Fährte, ohne einen Ton von sich zu geben. Ohne das Kommando „Fass!“ sprangen sie niemanden an und verfolgten unbeirrt die Spur auch im taubefallenen hohen Gras.

„Die müssen durch das Wasser gelaufen sein“, schlußfolgerte der Stelzbeinige, die Spuren auf dem Pfad aufmerksam betrachtend. „Der Knebel, das Lügenmaul, ist doch nicht nach Norden gegangen“, sagte er zu den Hundeführern. „Wir werden uns trennen, zwei gehen ans andere Ufer, zwei bleiben bei mir. Wir bewegen uns in unterschiedlicher Richtung. Ein Glück, daß wir vier Hunde haben.“

Die Streletzen befolgten schweigend seinen Befehl, wohl wissend, daß ihr Dienstherr bei der Verfolgung weder sich noch andere schonen würde. Die beiden, die die entgegengesetzte Richtung einschlugen, hatten sogleich ausgemacht, daß sie, anstatt einem Dieb hinterher zu jagen, sich lieber in die Büsche schlagen würden, um dort bis zum Morgengrauen zu schlafen. Am Morgen könnten sie sagen, sie hätten keine Spur gefunden.

Der Hundeführer, der mit dem Stelzbeinigen mitging, beneidete sie. Er befahl dem Hund, die Spur aufzunehmen, und stürmte vor, den Bach entlang, immer den gleichmäßigen Atem seines Vorgesetzten hinter seinem Rücken spürend. Er war jung und schnellfüßig und dachte, wenn er immer mal einen Zacken zugibt, wird seinem Vorgesetzten irgendwann die Puste ausgehen. Dann wird er ihn abhängen und sich in die Büsche schlagen, um ein bißchen zu schlafen. Soll doch die Obrigkeit nach Dieben jagen. Doch der Stelzbeinige lief erstaunlich leichtfüßig hinterher, ohne zu ermüden.

Der Hund blieb auf einmal wie angewurzelt stehen. Genau an der Stelle, wo eine halbe Stunde zuvor die beiden Galgenvögel aus dem Wasser gestiegen waren und ihren Weg nordwärts fortgesetzt hatten. Dabei setzten sie ihre Füße nur auf Baumzweige und –stümpfe, damit auf der Erde und dem Rasen keine Spuren zurückblieben.

„Was jetzt?“ fragte der Stelzbeinige ungeduldig.

„Er will nicht weiter“, antwortete der Hundeführer und befahl „Such!“ Der Hund kreiste um die verdächtige Stelle und knurrte.

„Spürt er was?“ fragte der Stelzbeinige mit Spannung in der Stimme. Dieser unduldsame Streletzenhauptmann, der den Menschen gegenüber kein Erbarmen kannte, hatte Respekt vor  Hunden. Seine Untergebenen wußten das. Der Hundeführer sah sehr wohl, daß der Hund etwas gespürt hatte. Er wußte, wenn man jetzt ein paar Dutzend Schritte weiterginge, würde der Hunde ganz bestimmt die Spur aufnehmen. Doch die naßkalte Luft des nächtlichen Waldes, die Äste und das Wurzelgeflecht unter den Füßen, die man im Dunkeln nicht sah, all das verleitete ihn zu sagen: „Nein“. Daß er damit nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben des Stelzbeinigen und das des Hundes rettete, ahnte er nicht.

 

Als die Fliehenden wieder auf festem Boden standen, befahl der Schrat dem Gefährten, langsamer zu gehen.

„Aber wir werden doch verfolgt...“ widersprach der zaghaft.

„Das ist gut so“, entgegnete der Schrat, und in seiner Stimme waren Genugtuung und Spott zu hören. „Verfolgung mit Hunden, Besseres kann uns nicht passieren. Halt!“

Der Knebel erstarrte, ohne den rechten Fuß auf die Erde aufzusetzen.

„Setz ihn weiter rechts auf“.

Der Knebel tat es. „Und jetzt auf den Baum mit dir!“

Die Kiefer, die am Weg stand, hatte dicke Äste um ihren Stamm, und der Knebel kletterte langsam den Baum empor.

„Und jetzt spring von dem Baum auf den da hinüber“, befahl der Schrat. Der Knebel sah nur undeutlich die andere Kiefer, er sprang dennoch. Es war zu viel des Guten. Er knallte mit voller Wucht gegen den Baum, ein dicker Zweig zerfetzte seinen Mantel, ein anderer durchschlug den Bastschuh. Der Knebel stürzte kopfüber nach unten und schlug mit dem Nacken gegen die Erde, wobei sein linkes Bein sich im Baum verfing. Das Bast, aus dem der Schuh geflochten war, war fest. Daran hing der Knebel an einem Ast. Vor Schreck hätte er fast losgebrüllt. Doch durch den Aufschlag war er wie betäubt. Seine Kleider hatten ihm die Luft abgeschnürt, und für einen Augenblick verlor er die Besinnung. Als er, wieder zu sich gekommen, begriff, daß er mit dem Kopf nach unten hängt, holte er tief Luft, um loszuschreien, doch inzwischen hatte der Schrat mitgekriegt, in welch mißlicher Lage sich der Kumpel befunden hatte, sprang zu Boden und steckte Knebel seine Hand in den weit geöffneten Mund.

„Ruhe“, zischte er. „Kein Mucks!“ Und der Knebel schwieg, die Übelkeit vom Gestank des eigenen Mantels, der nun über seinem Kopf hing, unterdrückend. Er spürte, wie sein Partner mit der Hand sich an seinem Bein zum Fuß mit dem verhängnisvollen Bastschuh hoch tastete, wie er den Ast zu fassen bekam und ihn abbrach. Das Bein, aus der Schlinge gelöst, fiel schwer herunter, die Spannung im Bauch ließ nach. Der Knebel zog die Zweigspitze aus dem Schuh.

„Kannst du gehen?“ fragte der Schrat. Der Knebel richtete sich auf, horchte in seinen Körper hinein. Die Muskeln schmerzten, aber die Knochen schienen ganz zu sein.

„Ja“, antwortete er.

„Los“, befahl der Schrat, packte ihn am Arm und zog ihn den Pfand entlang.

Nach zehn Schritten standen sie wieder auf der alten Stelle auf dem Pfad.

„Gib deine Mütze her!“ verlange der Schrat. Der Knebel zog seine Mütze vom Kopf und gab sie dem Kumpel. Der zog seine Mütze ebenfalls aus. Mit einem langen Riemen band er die Mützen aneinander, holte weit aus und warf sie in die Dunkelheit, ohne den Riemen loszulassen. Dann zog er die Mützen am Riemen wieder zu sich.

„Dort ist eine Wildschweinfalle – eine Grube, die hab ich bereits gestern gefunden.“

Der Knebel kannte solche Fallen. Als er bei Fürst Tatjew diente, hat er selbst solche Gräben im herrschaftlichen Jagdrevier ausgehoben. Eines Tages jagten Bojarensprößlinge, die beim Fürsten zu Gast waren, Füchse im Wald, und waren in den Graben, der mit Gras getarnt war, eingebrochen. Im Graben ragten spitze Holzpfeiler empor.

„Der Gott wird sich ihrer annehmen“, sagte der Knebel und bekreuzigte sich.       

 

Doch der Gott wollte es anscheinend, daß der Stelzbeinige verschont bleibt. Einen Werst weiter stießen er und sein Hundeführer auf ein Moor. Es wäre leichtsinnig gewesen, in der nächtlichen Dunkelheit eine unbekannte Gegend durch den Morast überqueren zu wollen, und die Verfolger schlugen den Rückweg ein. Der Hundeführer ließ den Hund weit vorangehen, und als dieser an der Stelle, wo der Schrat und der Knebel abgebogen waren, knurrte, konnte der Stelzbeinige es nicht hören.

Er mußte sich eingestehen, daß er zum Umfallen müde war. Sein Körper war vom feuchtkaltem Dunst, der vom Bach herüberkroch, klamm geworden. Sein rechter Stiefel war undicht geworden, und der Fuß darin gab bei jedem Schritt glucksende Laute von sich. Es sehnte ihn, so schnell wie möglich trocken Land unter die Füße zu bekommen, seine Mannen wieder um sich zu scharen und mit ihnen in die warme Behausung zurückzukehren.

Er und seine Begleiter waren an der Brücke als erste angelangt. Der Hundeführer zog ein Horn aus der Brusttasche, um zum Sammeln zu blasen. Er hätte zwar viel lieber einen Schuß aus der Pistole abgefeuert oder einen brennenden Pfeil gen Himmel steigen lassen, doch hatte der Stelzbeinige es strengstens untersagt, sich im Stillen über so viel Dummheit des Gefolgsmannes entrüstend.

Der hohe, helle Ton des Hornes durchdrang die Waldestille und verflocht sich mit ihr wie ein buntes Haarband mit einem Mädchenzopf. Sein Ruf klang wehmütig - ein Balsam fürs Ohr und ein Trost für die Seele.

„Welch schöner Klang“, sprach, sichtlich gerührt, der Dienstmann. „Ist das dein Werk?“

„Nein“, gab der Streletze zur Antwort. „Den Großvater rühmt man in der Umgegend als den großen Meister.“

„Lebt er noch?“

„Noch weilt er unter den seinen.“

„Laß ihn wissen, er möge für mich ein Horn fertigen. Was verlangt er denn für sein Werk?“

„Einen Sack Hirse.“

„Abgemacht.“

Der karge Wortwechsel war somit zu Ende. Man saß schweigend da und wartete auf die anderen. Die Streletzen stießen alle fast gleichzeitig zu ihnen. Die Hunde beschnupperten, freudig mit Schwänzen wedelnd, einander. Gefolgsleute erstatteten Meldung an den Dienstältesten:

„Überall nur Moorlachen. Keine Spur zu finden.“

„Wir haben den Fluß erreicht. Außer Buchten und Espengestrüpp nichts bemerkt. Auf einem Espenstamm war die Rinde zerkratzt, so als hätte man dort ein Boot festgemacht.“

„Wir haben nichts dergleichen gesehen, waren immer weiter gegangen, bis wir das Horn hörten.“

Wenn es heller wäre, hätte ihr Anführer die schlafverquollenen Gesichter seiner Schutzbefohlenen und den Schalk in ihren Augen erkennen können. Doch in der Finsternis kamen bei ihm keine Zweifel auf, und er befahl den Rückzug ins Dorf. Auf dem Rückweg geschah es, daß die Dienstmannen auf einen im Unterholz schlafenden Hasen stießen. Sie wären  sicherlich ahnungslos am Tierversteck vorbeigegangen, hätten nicht die Hunde plötzlich angeschlagen und wie wild an den Leinen gerissen. Eines der Tiere befreite sich aus dem Griff des Herrchens und stürzte mit lautem Gebell von dannen, Äste einknickend und mit kräftigen Beinen Dreckklumpen verspritzend. Die zurückgebliebenen Köter winselten und zogen an den Leinen. Die Hundeführer schwangen die Peitschen und suchten, die Hunde zu beruhigen. Das Herrchen des entlaufenen Köters rief nach ihm: „Zu mir, Nasar! Fuß! Fuß!“

Wutentbrannt riß der Streletzenführer an seinem Gurt, nach der  Peitsche tastend, um den Schuldigen sogleich zu bestrafen. Da er ihrer aber nicht sofort habhaft wurde, stieg die Wut immer höher in ihm und brachte das Blut in Wallung.

Das verängstigte Langohr war inzwischen weit entfernt. Es hatte, entgegen seiner Gewohnheit, keine Kreise geschlagen, um den Verfolgerhund in die Irre zu führen. Da endlich besann sich der Jüngling seines Hornes und führte es an die Lippen. Der helle Klang ließ den Wald aufhorchen und mit ihm auch den jagenden Köter. Der erzürnte Anführer fand seine Peitsche in dem Moment, als der vom Lauf erhitzte und den strengen Hundegeruch verbreitende Köter aus dem Wald zurück gesaust kam. Die Peitsche schnellte hoch und senkte sich mit Wucht auf den Kaftan des Streletzen. Im gleichen Augenblick sprang der Köter hoch und schnappte mit den Zähnen nach der Hand des Dienstmannes, die er samt der Peitsche nach unten riß. 

Der Stelzbeinige brüllte vor Schmerz auf und versetzte dem Hund einen Tritt. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Tier in die Schwärze der Nacht, aus der nur die gefletschten Zähne und funkelnden Augen blinkten. Ein tiefes bedrohliches Knurren erklang aus der Finsternis. Die anderen Hunde fielen warnend ein.

„Nasar!“ rief befehlerisch der Hundeführer, bewegte sich auf den Hund zu und packte ihn am Halsband. „Fuß! Ruhig!“

Der Hund gehorchte. Zwar funkelten noch wutentbrannt seine Augen, doch die Zähne fletschte er nicht mehr. Das bedrohliche Knurren verhallte.

„Das Aas hat mir die Hand durchgebissen“, stöhnte der Stelzbeinige, mit der Linken die Bißwunde zudrückend.

Einer der Streletzen holte aus seinem Proviantsack ein Leinentuch und verband dem Vorgesetzten die Wunde.

„Nasar trifft keine Schuld“, sagte der Hundeführer. „Niemand darf gegen seinen Herren die Hand erheben. Er hat nur seine Pflicht getan.“

„Zum Teufel mit ihm“, knurrte der Vorgesetzte. „Hauptsache, der hat keine Tollwut. Sieh nur, wie seine Augen funkeln.“

Tatsächlich loderten beim Erklingen seiner Stimme die Augen des Tieres wild auf.

„Zürne nicht, Herr“, sprach beschwichtigend der Hundeführer. „So ist nun mal diese Hunderasse. Nasar kann nachts gut sehen.“ Und der Bursche drückte liebevoll den Kopf des Hundes an sein Bein. „Ich werde dir die Wunde säubern und eine Salbe drauf tun, so daß in zwei Tagen nichts mehr zu sehen ist.“

„Ist die auch vom Großvater?“

„Von ihm. Er kann alles, sogar hellsehen.“

Vor Hellsehern und ihren Sprößlingen hatte der Dienstmann aber großen Respekt. Es leuchtete ihm ein, daß er an dem Biß nicht ganz unschuldig war. Deshalb zog er es vor, seinen Gram zurückzuhalten und bei der erst besten Gelegenheit den Burschen mit seinem Hund in die andere Kompanie zu versetzen. Drei Hunde, die sein Blut noch nicht geleckt hatten, würden in seinem Trupp reichen.

Die Gruppe kehrte zum Bach zurück, wo die Wunde mit fließendem Wasser gereinigt, einbalsamiert und verbunden wurde. Es war viel Zeit verstrichen, so daß der Trupp erst mit den ersten Sonnenstrahlen den Weiher erreichte.

Erschöpft und durchgefroren ging jeder schweigend in sein Quartier – die Hundeführer mit ihren Vierbeinern in die Hütte am Waldrand, ihr Vorgesetzter in das Popenhaus.

Sein Pferd auf dem Hof vernahm die vertrauten Schritte und wieherte freudig. Ein zärtliches Lächeln huschte über das Gesicht des Dienstmannes, der dem Pferd gerade ein paar kosende Worte zuflüstern wollte. In diesem Moment fiel sein Blick auf die Espe vor dem Haus, und die Worte blieben ihm im Hals stecken. Am Baum baumelte an einem Strick der Ataman. Sein Gesicht war blau angelaufen, aus dem zottligen mit Schaum bedeckten Bart quoll die unförmige schwarze Zunge hervor. Das linke Auge des Erhängten war einen Spalt offen und schien den Dienstmann voller Vorwurf anzusehen.

Der Streletzenführer biß die Zähne zusammen, mit Mühe einen Schrei unterdrückend. Doch eine Träne, die stumme Zeugin seiner Verzweiflung und der ihn übermannten Schwäche, schwoll im Augenwinkel an und verlief sich irgendwo im Schauzer.

„Und wieder ist er fort...“, flüsterte er. „Der verfluchte Satan... Wofür, oh Herr, strafst Du uns?!“

 

Mit dem Sonnenaufgang kam heftiger Wind auf. Baumwipfel neigten sich tief zur Erde, Äste brachen. Hie und da ächzte das Holz, und die entwurzelten Bäume schlugen so hart auf den Boden auf, daß dieser erbebte.

In der Erdhütte war es warm und feucht. Die nachts gut durchgeheizte Erdbehausung zeigte sich ungerührt von dem Naturspektakel. Die Männer, die um eine Ölfunzel saßen, schienen es ebenfalls nicht wahrzunehmen. Sie sahen sich nicht ängstlich um und schlugen keine Kreuze. Sie lauschten dem Wort des Waldschrats.

„Alles hat mal ein Ende. Die Welt, der Mensch, ein Jahrhundert... Im Winter geht unser Jahrhundert, das sechzehnte nach der Geburt Christi, zu Ende. Durch Göttliche Fügung und das Schicksal wird das kommende Jahrhundert für ganz Europa von einer ganz besonderen Bedeutung sein. Rußland, dessen Söhne wir sind, wird am Scheidewege stehen: Soll es ein europäischer Staat werden oder unter dem Joch der Rzeczpospolita untergehen. Es gibt noch einen dritten Weg: das Russische Reich nach Osten hin auszudehnen und dann mit der neu erworbenen Macht jedweder Bedrängung aus dem Westen und dem Süden zu trotzen.“

„Was haben wir denn damit zu schaffen?“ wunderte sich der Zigeuner, der, wie alle wußten, das schwülstige Wort verabscheute, dafür aber die Sprache der stählernen Klinge um so besser verstand.

„Die Zeit der Rebellion und der Umbrüche bahnt sich an“, setzte der Schrat fort, „eine Zeit, da ein Schwachsinniger rechtmäßig den Thron besteigen, der Mob den gemeinen Mann zum Fürsten erheben, den Mann von edler Geburt aber in den Dreck stürzen und im Blut ertränken wird. Halsabschneider wie wir es sind, werden auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeit ihre Finger in so mancher fremder Tasche spazieren gehen lassen, und beträchtliches Reichtum wird dabei seinen Besitzer wechseln.“

„Na, wenn´s soweit ist, dann werden wir auch die Feste feiern“, wendete der Zigeuner ein.

„Nein, ihr müßt schon heute bereit sein. Wenn´s soweit ist, wird jeder der Erste sein wollen. Aber nur der wird anderen zuvor kommen können, der alles vorhergesehen hat“, meinte der Schrat.

„Du meinst doch nicht etwa dich?“ spöttelte der Zigeuner.

„Ja, mich auch“, nickte der Schrat. „Auch dich, uns alle. Und all diejenigen, die sich schon heute auf das vorbereiten, was sich im Land und Volk zusammenbraut. Und die dafür unserem Zaren verhaßt sind.“

„Wozu das ganze Gerede“, meldete sich der Knebel. „Ich begreife das nicht.“

Der Schrat steckte seinen Finger in die Ölfunzel und richtete den Docht auf. Für kurze Zeit schlug die Flamme rußend und knisternd hoch.

„Ich gehe fort“, sagte er. „Ich schlage vor, den Knebel derweil zum Häuptling zu machen. Ihr müßt überleben und auf meine Rückkehr warten. Dann werde ich ein Heer aus Wagemutigen zusammenstellen, aus Leuten, die aus dem Nichts ganz hoch hinaus wollen. Ich glaube an euch, vertraut auch ihr mir.“

„Was, den Knebel zum Häuptling?“ empörte sich der Zigeuner. „Den werf´ ich doch mit einem Arm zu Boden.“

Die Männer warfen sich gespannte Blicke zu. Die lange Rede hatte sie ermüdet, und der sich anbahnende Faustkampf um die Obrigkeit schien eine Abwechslung zu bringen.

Der Zigeuner war ein drahtiger kräftiger Kerl von Mitte dreißig. Er war wendig und erfinderisch im Kampf, und das Glück ging ihm oft zur Hand. Aber ein Held war er nicht. Er mied die Gefahr, im Gefecht kämpfte er am liebsten Schulter an Schulter mit den anderen und machte nichts im Alleingang.

Vom Knebel war genau das Gegenteil bekannt. Im Gefecht nahm er es gern mit zwei oder drei Gegnern auf. Aber er hatte die Fünfzig bereits überschritten, an Wendigkeit und Geschicklichkeit eingebüßt, die alten Wunden setzten ihm zu.

Es war klar: Der neue Häuptling würde entscheiden, ob man dem Schrat Glauben schenkt oder sein Gerede einfach vergißt.

Der Schrat begriff, daß seine Worte ins Leere gesprochen waren und winkte ab.

„Ach, tut doch, was ihr wollt.“

Die Männer lärmten los. Nach einem kurzen Streit einigten sie sich: Alle, außer den beiden Streithähnen werden die Erdhütte verlassen. Die beiden bleiben ohne Waffen allein darin. Der Sieger soll nach dem Kampf die Tür öffnen.

Der Wind hatte sich immer noch nicht gelegt. Die Erde stöhnte. Ein riesiger Ast stürzte herab und durchbohrte die Erde neben dem Schrat. Der drehte sich ungerührt zu den Kameraden und sagte mit fester Stimme: „Kommt näher, hier passiert euch nichts. Zwei Äste stürzen nie auf die gleiche Stelle herab.“

Die Männer glaubten seinen Worten und umringten ihn. Unter gewaltigen Windstößen schluchzte und klagte der Wald. Ein lautes Fiepen bohrte sich schmerzlich in die Ohren, um im gleichen Augenblick zu verhallen.

„Ein Eichkätzchen“, erkannte der Schrat und sah in die verängstigten Gesichter seiner Gefährten. Er ergriff den tief in den Boden gerammten Pfahl, stellte die Beine weit auseinander und stütze sich mit beiden Armen auf ihn. Die anderen folgten seinem Beispiel. Doch der Wind schlug erbarmungslos gegen die Beine und Rücken, riß an den Haaren, zwängte sich durch die Kleider und bohrte sich in die Leiber. Da hockte sich der Mann, den man Pfeife nannte, auf den Boden, wickelte den Mantel fester um den Leib und zog den Kopf ein, als wollte er ihn in der Achselhöhle verstecken. Der zweite, Dohle genannt, folgte seinem Beispiel. Der dritte, den man Ruder nannte, verharrte noch einige Augenblicke neben dem Knebel, hockte sich aber dann ebenfalls hin und zog sich den Mantel über den Kopf.

Nur der Knebel stand, sich gegen die Erde und den Pfahl stemmend, aufrecht wie ein Fels. Seine Augen starrten in die tosende Dunkelheit und verrieten Entschlossenheit.

Als die Tür der Erdhütte aufgestoßen wurde, sah man erst die Hand, dann die Mütze, die Schultern und das Gesicht des Siegers. Der Schrat erblickte ihn als erster, machte einen Schritt ihm entgegen und half ihn nach oben.

„Der Zigeuner ist tot“, sagte der Knebel so laut, daß seine Stimme sogar bis zu den Ohren des Ruders drang, der unter seinem Mantel zu schlafen schien. „Ich bin euer Häuptling.“

Die Männer krochen wieder in die Erdhütte. Nur der Knebel und der Schrat blieben draußen.

„Du mußt jetzt fort“, sagte der Knebel. „Wir kommen alleine klar.“ Er holte hinter dem Rücken ein Säckel hervor und reichte es dem Schrat. „Es ist deins. Nimm´s mir nicht übel.“

„Das hat schon seine Richtigkeit. Mehrere Bären leben nie in einer Höhle.“ Er nahm den Sack. „Im Sommer bin ich zurück. Wart auf mich.“

Die Männer umarmten sich. Nach einem kurzen Augenblick lösten sie die Umklammerung ihrer Arme und gingen, ohne sich umzublicken, in verschiedene Richtungen. Der Knebel stieg in die Erdbehausung, und der Schrat verschwand im tosenden, stöhnenden Wald...

 

Deutsch von Galina Würz          

  

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